Die Ampel und die Union haben sich nichts geschenkt, als es darum ging, die Schuld am Scheitern einer ganz großen Koalition zur Begrenzung der illegalen Migration zu verteilen. Auch die Vorhersagen, welche Wirkung die nun allein von der Koalition getragenen Maßnahmen haben werden, gehen auseinander. Man wird sehen, wer deren Erfolgsaussichten realistischer beurteilt (hat). Vielleicht wird auch schon das Wahlergebnis in Brandenburg einen Hinweis darauf geben, was die Deutschen von den Entscheidungen halten, die von der Regierung Scholz – auch mit Blick auf diese Wahl und die Bundestagswahl im nächsten Jahr – als eine Zeitenwende in der Flüchtlingspolitik dargestellt wurde.
Die ist freilich weit von dem entfernt, was nötig gewesen wäre, um diesen Namen zu verdienen. Zwar hat sich die Ampel zu Maßnahmen durchgerungen, die sie jahrelang als rechtlich unmöglich dargestellt hatte. Zu einem radikalen Kurswechsel wie in der Russland- und Verteidigungspolitik nach dem Überfall Putins auf die Ukraine war die Koalition in der Migrationspolitik aber nicht fähig, in großen Teilen auch nicht willens.
Grüne Urüberzeugung: Einwanderung ist gut für Deutschland
Daran, dem Vorschlag der Union zu folgen, hinderten die Ampel nicht nur wahltaktische Überlegungen, die sie selbstredend allein in den Reihen der Opposition erkennen will. Insbesondere die Grünen klammern sich krampfhaft an die Migrationspolitik Merkels. Zu den noch nicht ganz abgeschliffenen Urüberzeugungen der Partei gehört, dass Einwanderung gut für die deutsche Gesellschaft sei und Deutschland wegen seiner Vergangenheit den Beladenen der Welt großzügige Aufnahme schulde.
Weil das aber allenfalls noch die grüne Stammwählerschaft als Ausrede für den Kontrollverlust bei der Einwanderung akzeptiert, behaupten die Verteidiger der Merkel-Linie (die sich auch noch in der SPD und der CDU finden) hilfsweise, ein fundamentaler Kurswechsel, wie von Merz gefordert, sei gar nicht möglich, weil dem die einschlägigen verfassungs-, europa- und völkerrechtlichen Verpflichtungen entgegenstünden. So lässt sich leicht argumentieren, denn das Geflecht dieser Regeln ist derart dicht, dass zwei Juristen nicht nur drei Meinungen dazu haben können, wie die Debatte zeigt. Auch in der Ampel gab es die Ansicht, es sei mehr denkbar als das, was Scholz und Co. als das Maximum des Möglichen bezeichneten.
An die Dublin-Regeln halten sich nur noch wenige
Die Unionsparteien hätten es darauf ankommen lassen, wie die nationalen und internationalen Gerichte geurteilt hätten. Auch vor den Reaktionen der Nachbarländer hatten CDU und CSU, deren Bekenntnis zum vereinten Europa außer Frage steht, sich weniger gefürchtet. Kritik aus dem Ausland war unvermeidlich, als aus Berlin das Signal kam, dass Deutschland jedenfalls nicht mehr im bisherigen Maße das große Auffangbecken für Flüchtlinge sein will und kann, die andere nicht aufnehmen wollen. An die Dublin-Regeln halten sich nur noch wenige. Man leitet Flüchtlinge gerne nach Deutschland weiter, nimmt sie aber nicht oder nur unter absurden Bedingungen zurück.
Die von der Union geforderte Zurückweisung hätte zwar auch nicht zu einem völligen Versiegen des Flüchtlingsstroms geführt, aber wohl zu einem Dominoeffekt, der die Prüfung, wer Asyl in der EU bekommt, in Richtung Außengrenzen verschoben hätte, wo sie nach den Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auch stattfinden soll. Ob die Beschleunigung der Abläufe an den deutschen Grenzen – so sie denn gelingt – diesen Effekt hat, wird man sehen. Möglicherweise schreckt die Aussicht, festgehalten und danach zurückgeschickt zu werden, Migranten davon ab, Schleusern viel Geld für die Passage ins gelobte Deutschland zu zahlen. Vielleicht lassen sich aber auch mehr Flüchtlinge erst gar nicht in einem anderen EU-Land als Asylanten registrieren, damit sie nicht dorthin zurückgeschoben werden können.
Das Wasser der Überforderung auf die Mühlen der AfD und des BSW
Vom Eindämmungserfolg an den Grenzen und der schon lange versprochenen Abschiebung „im großen Stil“ wird abhängen, ob das Thema Migration seine Sprengkraft behält – und ob AfD und BSW das Wasser der Überforderung weiter so erfolgreich auf ihre Mühlen leiten können wie zuletzt. Wann und wie der Staat die Kontrolle über seine Grenzen und den Zuzug von Ausländern zurückgewinnt, ist zu einer Schicksalsfrage der deutschen Demokratie geworden.
Eine fortschreitende politische Radikalisierung und Destabilisierung Deutschlands wäre auch nicht im Interesse seiner Nachbarn. Das sollten jene bedenken, die Deutschland für die Notmaßnahmen schelten, zu der sich der großherzige Staat im Zentrum der EU nun gezwungen sieht. Dazu beigetragen hat die Missachtung geltender Regeln durch andere EU-Staaten. Die Hauptschuld für die Notlage, mit der die Regierung Scholz nun die Kontrollen an allen Grenzen rechtfertigt, trägt freilich die eigentümliche Mischung aus Multikulti-Ideologie, Schicksalsergebenheit und Hybris („Wir schaffen das“), die seit einem Jahrzehnt die deutsche Flüchtlingspolitik prägt.
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