Es mehren sich Medienberichte, denen zufolge im Kursker Gebiet auch russische Wehrdienstleistende gegen die Ukrainer eingesetzt werden, gefallen oder verschollen sind. Offizielle Aussagen fehlen, Geheimhaltungsvorschriften greifen. Einer, von dem jede Spur fehlen soll, ist der 19 Jahre alte Wladislaw Appel. Journalisten des russischen Projekts „Bereg“ sprachen mit seiner Großmutter. Das knappe Protokoll davon zeigt, wie in Russland auch im dritten Jahr des großen Krieges weiter der Glaube an den Staat, die Armee und die eigene Ohnmacht vorherrscht und den Streitkräften immer neue Leute zuführt.
Russische Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren sind grundsätzlich verpflichtet, zwölf Monate lang Wehrdienst zu leisten. Bis Anfang dieses Jahres lag die Altersgrenze bei 27 Jahren. Dass die Reform zunächst eine schrittweise Anhebung auf 21 bis 30 Jahre anstrebte, dann aber nur die Altersgrenze anhob, dürfte den im Krieg stark gestiegenen Bedarf an Nachwuchs der Armee zeigen. Im Herbst 2023 wurden offiziell 130.000 Wehrpflichtige eingezogen, 10.000 mehr als jeweils in den drei Jahren zuvor.
Natalija Appel erzählte, ihr Enkel habe eine Ausbildung zum Elektriker abgebrochen und sei „sofort“ danach, Anfang November 2023, einberufen worden. „Er hat sich nicht gewehrt: Er wollte in die Armee“, sagte die Großmutter über ihren Enkel und fügte an, das gelte, „scheint mir, für alle normalen Jungs. Alle wollen in die Armee.“
Druck auf Wehrdienstleistende
Russlands Streitkräfte, die lange für die „Djedowschtschina“, die „Herrschaft der Großväter“ über die Jugend, berüchtigt waren, haben viel dafür getan, ihr Image aufzubessern. Hinzu kommt, dass Präsident Wladimir Putin und sein Macht- und Medienapparat schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine von 2022 begonnen haben, für den Dienst an der Waffe zu werben, als ehrenvoll, eines Mannes würdig, gut bezahlt. „In der Armee ist er zum Mann gereift, ein ganz anderer geworden“, sagte nun auch die Großmutter.
Wladislaw sei in das in der Stadt Klinzy im Brjansker Gebiet stationierte 488. Motorschützenregiment gekommen. Diesem hat Putin im Sommer 2022 den Ehrentitel „Gardeeinheit“ verliehen, was er mit „Massenheldentum und Tapferkeit, Standhaftigkeit und Mut“ im Kampf für „den Schutz des Vaterlands und staatliche Interessen unter den Bedingungen bewaffneter Konflikte“ begründete. Im ukrainischen Gebiet Charkiw hatte das Regiment im März 2022 laut dem Medium „Wjorstka“ viele Soldaten verloren. Wehrdienstleistende indes sollten nicht in die Ukraine kommen, so hat es Putin im Frühjahr 2022 versprochen.
Damals war er offenkundig bestrebt, Sorgen russischer Eltern zu zerstreuen, auch Wehrdienstleistende könnten in seiner „speziellen Militäroperation“ eingesetzt werden. Denn so war es im Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und in den beiden Tschetschenienkriegen gewesen. In einem Treffen mit Fluglinienmitarbeiterinnen am 5. März 2022 und in einer Ansprache zum Internationalen Frauentag drei Tage darauf versicherte Putin, dass Wehrpflichtige nicht an Kampfhandlungen teilnähmen und nicht teilnehmen würden. Kurz darauf gab das Militär zu, es seien „leider einige Fälle festgestellt“ worden, in denen Wehrdienstleistende doch in der Ukraine eingesetzt worden seien, „fast alle“ seien zurück in Russland, nur einige in Gefangenschaft geraten.
Doch gerade hat der russische Dienst der BBC von mindestens 159 Wehrdienstleistenden berichtet, die in der Invasion gefallen seien, vermutlich weit mehr. Laut der Hilfsorganisation der Soldatenmütter gibt es in der russischen Armee seit 1996 die Praxis, die jungen Männer mit Anreizen und Druck dazu zu bringen, sich als Berufssoldaten zu verpflichten – und laut der BBC wird den Familien solcher Gefallener oftmals versichert, diese hätten kurz vor ihrem Tod noch einen Vertrag unterzeichnet.
„Ihre heilige Pflicht gegenüber der Heimat“
Derzeit berichten Menschenrechtsschützer, Wehrdienstleistende aus mehreren Regionen würden ins Kursker Gebiet geschickt. Die Äußerungen der Angehörigen in sozialen Medien wirken überrascht, als würden sie mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die sie nicht für möglich gehalten hätten. Dabei war ein anderes Versprechen Putins aus dem März 2022, nämlich dass nur Berufssoldaten in der Ukraine eingesetzt würden, spätestens mit der „Teilmobilmachung“ im September 2022 auch offiziell überholt.
Zudem bezog sich Putins Zusage, Wehrdienstleistende zu schonen, immer nur auf die Ukraine und nicht auf das Grenzgebiet: Am 13. Juni 2023 stellte er vor sogenannten Kriegskorrespondenten klar, Wehrdienstleistende seien in den Gebieten von Kursk und Belgorod präsent, „und im Bedrohungsfall müssen sie ihre heilige Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen und das Vaterland schützen“.
Natalija Appel erzählte nun weiter, ihr Enkel sei vor zwei Monaten in ein Dorf im Kursker Gebiet „500 Meter von der Grenze“ zur Ukraine geschickt worden, „ohne Waffen und ohne alles. Was konnten die Jungs machen? Mit einer Schaufel auf sie losgehen?“ Den letzten Telefonkontakt zu ihm habe es am 6. August gegeben, dem Tag, als die Ukrainer ihre Offensive begannen. Jemand im Hintergrund habe gerufen: „Panzer! Alles in den Unterstand!“ Dann sei die Verbindung abgebrochen. Jetzt erhalte die Familie in Anrufen keine Gewissheit über Wladislaws Schicksal. Die Journalisten von „Waschnyje Istorii“ haben mindestens 22 Wehrdienstleistende gezählt, die im 488. Motorschützenregiment gedient hätten und nun „spurlos verschwunden“ seien.
Natalija Appel hat sich Videos angesehen, welche die Ukrainer von gefangenen Wehrdienstleistenden verbreitet haben, hofft, dass auch ihr Enkel bloß gefangen ist. Mutmaßliche Betrüger schrieben über Telegram, Wladislaw sei ihr Gefangener und forderten Geld. Das glaubte die Familie aber nicht: „Die Ukrainer nehmen kein Geld für Gefangene.“ Die Großmutter hofft auch, dass „alles schneller zu Ende geht“, denn „der Krieg, das ist das Schrecklichste“. Zugleich wirkt sie hilflos. „Aber was kann ich machen? Überhaupt nichts.“
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