Im Osten von Paris, gut 35 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, gibt es eine seltsame Stadt. Von Weitem sieht sie aus wie eine typische alte französische Provinzstadt mit ein paar mittelalterlichen Burgen und Häusern mit Sprossenfenstern und Mansarden und Türmen und verträumten Fensterläden, denen ihre Schieferdächer wie zu große Hüte in die Stirn rutschen. Erst wenn man der Stadt näher kommt, erkennt man, dass hier alles seltsam steril aussieht, eher wie eine Filmkulisse für eine romantische Komödie, in der gleich zu Beginn ein alleinstehender Mann mit seinem Baguette eine Frau anrempelt, die deswegen erst sehr wütend, später aber die Frau seines Lebens wird oder so etwas.
Allerdings leben in dieser Kulissenstadt Zigtausende von echten Menschen, und dass sie trotzdem eher wie ein Filmset aussieht, könnte daran liegen, dass sie nicht von normalen Stadtplanern, sondern von einem der größten Illusionsproduzenten der Welt entworfen wurde – vom Disney-Konzern. Der durfte in den Achtzigerjahren im Pariser Osten nicht nur eine weitere Filiale seiner Themenparks installieren, sondern gleich ein ganzes Tal vollbauen, das ab sofort „Val d’Europe“ genannt wurde, mit gleich fünf neuen Städten, die allesamt wie Filmkulissen oder ein Themenpark „schönes altes Frankreich“ aussehen.
Die Retortenstädte Bailly-Romainvilliers, Chessy, Coupvray, Magny-le-Hongre und Serris, die das „Val d’Europe“ bilden, wurden 1992 zusammen mit dem Euro Disney Resort eröffnet; heute wohnen dort über 37.000 Menschen, Disney hat fünf Milliarden Euro investiert. Noch nie hatte ein Konzern in der Geschichte Frankreichs so viel zu sagen, wenn es um den Bau neuer Städte ging, und noch nie wurden so hemmungslos alle modernen Stile und Ideen ausgeblendet, die nach dem Städtebau von Baron Haussmann und dem Ideal der Gartenstadt des 19. Jahrhunderts kamen: Die Stadtplaner Cooper, Robertson & Partners kommen aus New York und sind für ihren New Urbanism bekannt, der in Amerika versucht, Retortenstädte nach dem Vorbild alter europäischer Städte zu bauen.
Dass sie für Disney im Pariser Osten neue Städte errichten durften, ist eine Art doppelter ästhetischer Rückkoppelung zwischen verschiedenen Fiktionsebenen: Ein Teil des Pariser Ostens sieht nun so aus, wie man sich in Amerika Frankreich vorstellt, und diese Vorstellung von Frankreich haben die Amerikaner vor allem aus Disney-Filmen. Die Franzosen, die im Val d’Europe leben, werden von dieser Architektur auf direktem Wege zu Frankreich-Darstellern gemacht, ihr reales Leben findet sozusagen in einer Fiktionalisierung ihrer eigenen Existenz statt.
Der Sieg des Films über die Moderne
Diesen eigenartigen Rückkopplungen zwischen Fiktion und Realität widmet sich zurzeit eine sehenswerte Ausstellung im Architekturmuseum Arc en Rêve in Bordeaux, das seit 2021 von Fabrizio Gallanti geleitet wird. An Architektur interessiert Gallanti vor allem, was sie über die Gesellschaft erzählt, die sie erfindet und sich in ihr einrichtet – und was sie hervorbringt: „Hip-Hop zum Beispiel“, sagt Gallanti, „ist untrennbar verbunden mit den modernen Sozialbauten der Bronx, in denen diese Musik in den Siebzigern entstand.“
His latest exhibition, “L’architecture des réalités mises en scène: Re-construire Disney” (Arc En Rêve Bordeaux, until January 5, 2025), shows how Disney’s fantasy worlds were shaped by old European architecture – and how they later influenced reality and architecture themselves: What “living” means, what a “beautiful house” is, all of this was largely shaped in the 20th century by the entertainment industry with films that millions of people saw. Gallanti begins with Walt Disney’s first trip to Europe as a 17-year-old, where shortly after the First World War he was particularly interested in castles and palaces. These castles shaped his fairytale films, the company logo and the first Disneyland in the 1950s with its Sleeping Beauty Castle.
Soon, traditionalist architects were building castles in the style of Disney architecture. In 1937, after the success of his Snow White film, Walt Disney had his studios designed by the architect Kem Weber in an Americanized Bauhaus style, and in the 1960s he planned a future city, the Experimental Prototype Community of Tomorrow, or EPCOT for short, with futuristic spherical houses and concrete spaceships; after that, however, modernity gradually disappeared from Disney’s world.
In Paris, the company sold the French an image of France that was largely based on American films; in Florida, Disney also built the small town of Celebration City in the 1990s in the traditional style of a 19th century colonial town with white wooden houses and Main Street. Market research had shown that this was how Americans imagined the ideal city. Disney’s films provided the nostalgic ideas of life and roles. What the exhibition in Bordeaux shows is the victory of film and its nostalgic fantasies over the modernity that gave rise to it – and how Disney managed to push the nostalgic backdrops of his fictions ever further into the viewers’ reality.
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