Als Kind eines Schichtarbeiters bei Thyssen, der nebenher als Schuster arbeitete, um das Familieneinkommen aufzubessern, weiß Wolfgang Strengmann-Kuhn genau, mit welchen Sorgen viele Menschen etwa im armen Offenbacher Nordend täglich umzugehen haben. Als Bundestagsabgeordneter der Grünen im Wahlkreis 185 vertritt er auch deren Interessen in Berlin. Das Soziale in der Marktwirtschaft steht und stand für den habilitierten Volkswirt immer im Mittelpunkt seiner Arbeit – auch als Bundestagsabgeordneter. 2008 ist er zum ersten Mal in das Parlament eingezogen, dem 21. Bundestag wird er nicht mehr angehören. Zur Wahl im September 2025 tritt der 1964 in Dinslaken geborene Vater zweier Kinder nicht mehr an.
Strengmann-Kuhns Parteifreund Tarek Al-Wazir wird seit dessen Ausscheiden aus dem Amt des hessischen Wirtschaftsministers als sein möglicher Nachfolger im Bundestag gehandelt. Geradezu amüsiert beobachtet Strengmann-Kuhn nun, wie mancher versucht, die Geschichte eines von ihm protegierten Nachfolgers zu konstruieren. Allerdings macht er auch kein Geheimnis daraus, dass er Al-Wazir tatsächlich für einen hervorragender Bundestagsabgeordneten hält. Er weiß aber auch, dass Bundestagsmandate keine Erbhöfe sind, auch nicht bei den Grünen.
„Es sind eben immer Kompromisse“
Strengmann-Kuhn war nie so naiv, anzunehmen, er könne als Bundestagsabgeordneter Konzepte, wie er sie in seiner Arbeit als Wissenschaftler entwickelt hat – unter anderem an der Goethe-Universität – im Parlament eins zu eins in die Praxis überführen. „Es ist auch das Bohren dicker Bretter, und es sind eben immer Kompromisse“, sagt er.
Lange bevor er daran gedacht hat, in den Bundestag zu gehen, hat ihn ein Interview mit dem Sozialdemokraten Erhard Eppler beeindruckt. Darin habe der frühere Entwicklungshilfeminister gesagt, man erreiche niemals das, was man wolle, aber man erreiche immer etwas. Seiner Erfahrung nach hatte Eppler recht. „Man hat schon Einfluss darauf, was entschieden wird und wie“, sagt Strengmann-Kuhn, wobei in dieser Analyse des Wissenschaftlers womöglich auch etwas Ernüchterung mitschwingt.
Reaktive Politik vor sachlichen Betrachtungen
Für ihn zeigt etwa der Umgang mit dem Attentat von Solingen, bei dem drei Menschen starben, dass die Äußerungen auf der politischen Ebene immer öfter weit von einer sachlichen Betrachtung entfernt sind. Es habe auch in diesem Fall kein Innehalten gegeben, keine Analyse der Fakten, sondern es seien sofort wahllos Themen vermischt worden. Vorkehrungen gegen gewalttätige Straßenkriminalität – auch mit Messern – seien mit dem Kampf gegen extremistisch motivierten Terror gleichgesetzt worden, obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun habe und jeweils ganz unterschiedliche Reaktionen erforderlich seien.
„Es hat mich oft gestört, dass im Bundestag viele Debatten nicht fundiert geführt werden. Und das ist in letzter Zeit immer schlimmer geworden“, sagt Strengmann-Kuhn. Auch bei der CDU sei das immer öfter zu beobachten. Das erschrecke ihn deshalb sehr, weil er auch in der Union viele kluge Menschen kennengelernt habe wie etwa den Frankfurter Bundestagsabgeordneten und Sozialpolitiker Matthias Zimmer. Mit dem leider schon gestorbenen Kollegen habe er immer mit Gewinn auch kontrovers diskutieret, stets im Einvernehmen, dass auch der andere recht haben könnte. Unter dieser Prämisse habe auch die schwarz-grüne Regierung unter Volker Bouffier (CDU) in Hessen gute Politik gemacht.
Die Zustimmungsverluste der Grünen in jüngerer Zeit sind seiner Ansicht nach zu einem erheblichen Teil selbst verschuldet – etwa wegen des Heizungsgesetzes. Für Strengmann-Kuhn ist klar, „dass wir die soziale Frage dabei in der Kommunikation zunächst einmal völlig vernachlässigt haben“. Das ärgere ihn besonders, weil die Grünen in der internen Diskussion die sozialen Folgen mehr als andere im Blick gehabt hätten. Mit dem fertigen Gesetz sei er zufrieden, das eine Förderung neuer Heizungen mit 30 bis 70 Prozent vorsehe.
„Wir wollten zu viel zu schnell“
Die Diskussionen im Vorlauf seien aber ein Desaster gewesen. „Wir wollten zu viel zu schnell“, sagt er. Ein unfertiger Entwurf, der durchgestochen worden sei, habe die Bevölkerung tief verunsichert. Unwahre Behauptungen hätten das noch befeuert. Ungeachtet der Pannen müsse man aber sehen, dass großer Zeitdruck bestehe, weil 2045 auch alle Heizungen klimaneutral sein müssten und Deutschland zu lange zu wenig getan habe. Die Grünen hätten anfangs nicht bedacht, was man der Bevölkerung zumuten könne und was nicht. Die soziale Frage müsse grundsätzlich immer im Blick sein. In dieser Hinsicht habe seine Partei dazugelernt, das sei aber noch immer nicht bei allen Mitgliedern im erforderlichen Maße der Fall.
Was die Bildungspolitik betrifft, weiß Strengmann-Kuhn auch aus Offenbach sehr genau, dass Kommunen unter politischen Versäumnissen in Land und Bund leiden. Die Grünen-Landtagsfraktion, namentlich Al-Wazir, hat gerade aus einer Antwort der schwarz-roten Landesregierung auf eine kleine Anfrage errechnet, dass in Stadt und Kreis Offenbach rund 150 Lehrkräfte fehlen, 830 in ganz Hessen. Strengmann-Kuhn weiß, dass Lehrkräftemangel immer wieder Thema wird, weil er nicht nachhaltig bekämpft wird.
Er persönlich halte 16 verschiedene Schulsysteme nicht für optimal, sagt er, fügt aber sofort hinzu, dass Bildungspolitik nun einmal Sache der Länder sei. Trotzdem nimmt er an, dass eine starke nationale Ebene und starke, finanziell gut ausgestattete Kommunen effizienter im Sinne der Bürger arbeiten könnten. Das zeige sich etwa in Skandinavien.
Strengmann-Kuhn erkennt politische Erfolge
Zu den Erfolgen seiner Berliner Arbeit zählt Strengmann-Kuhn, an der Entwicklung des Mindestlohns beteiligt gewesen zu sein, an der Kindergrundsicherung und an der Grund- oder Basisrente. Ganz aktuell ist der „Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit 2024“, in dem das Ziel ausgegeben wird, in Deutschland bis 2030 Obdachlosigkeit zu beseitigen. Auch daran hat er wesentlich mitgewirkt. Und dann ist da noch das zusätzliche Weiterbildungsgeld für A
rbeitslose, das inzwischen Gesetz geworden ist. Diese Idee habe er vor Jahren aus der Wissenschaft in die politische Diskussion gebracht. Er habe sozusagen eine Sozialleistung erfunden, sagt er schmunzelnd.
Als „Kind der Friedensbewegung“ kann Strengmann-Kuhn nicht damit einverstanden sein, dass unter einer Außenministerin der Grünen Waffen an Saudi-Arabien geliefert werden, das Kritiker ermorden lässt. Auch dem 100-Milliarden-Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr hat er nicht zugestimmt. Die Ukraine im Kampf gegen die russische Landnahme zu unterstützen hält er dagegen für richtig. Trotzdem hat er nicht viel mit Grünen wie Anton Hofreiter gemein, der zum Experten für Waffen mutiert zu sein scheint und immer mehr davon für die Ukraine fordert. Man dürfe nicht vergessen, dass auch diese Waffen Menschen töten, sagt Strengmann-Kuhn.
Nach seinem Abschied vom Bundestag will Strengmann-Kuhn wieder Wissenschaft betreiben. Er freut sich darauf, Fragen zu analysieren und Antworten zu finden, ohne dabei dicke Bretter der Berliner Politik bohren zu müssen auf der Suche nach einem Kompromiss.
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