Das von der Europäischen Kommission verfügte Verbot einer Übernahme des Krebstest-Herstellers Grail durch das amerikanische Biotech-Unternehmen Illumina ist nichtig. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am Dienstag entschieden und damit das Urteil des erstinstanzlichen EU-Gerichts kassiert (Az. C-611/22 P und C-625/22 P). Die EU-Kommission hatte die Fusion im September 2022 verboten und Illumina außerdem im Juli 2023 ein Bußgeld von 423 Millionen auferlegt, weil das Unternehmen die Übernahme schon vor einer Brüsseler Entscheidung vollzogen hatte. Gegen das Urteil sind keine weiteren Rechtsmittel möglich. Die Kommission kündigte am Dienstag an, die Bußgeldverfügung aufgrund des Urteils zurückzunehmen.
Illumina hatte im September 2020 angekündigt, Grail für 8 Milliarden Dollar übernehmen zu wollen. In Brüssel hatte das US-Unternehmen den Deal nicht angemeldet, weil es die Kommission aufgrund von Marktanteilen nahe Null in Europa nicht für zuständig hielt. Die Richter bestätigten diese Einschätzung und urteilten, das Vorhaben habe keine europaweite Bedeutung, „insbesondere weil Grail weder in der Europäischen Union noch an einem anderen Ort der Welt Umsätze erwirtschaftete“.
Für das Vorhaben selbst kommt das Urteil zu spät. Illumina hat Grail schon im Dezember 2023 abgestoßen. Die Bedeutung der Luxemburger Entscheidung liegt daher nicht in dem konkreten Fall, sondern darin, dass die Richter die Zuständigkeit der Kommission in der Fusionskontrolle grundsätzlich begrenzt haben. Auch die Nichtanmeldung der Übernahme in einzelnen EU-Staaten sei angemessen gewesen, weil die dafür notwendigen Umsatzschwellen nicht erreicht worden seien, heißt es in dem Urteil.
Übernahme als „Killer Acquisition“ eingestuft
Die Kommission hatte den Fall an sich gezogen, weil sechs nationale Kartellbehörden im Wissen um ihre eigene Nichtzuständigkeit aufgrund eigener Wettbewerbsbedenken sie dazu aufgefordert hatten. Die Bedenken lagen vor allem darin, dass die Übernahme als sogenannte „Killer Acquisition“ eingestuft wurde. Damit ist gemeint, dass ein (in der Regel am Markt gut eingeführtes) Unternehmen einen jungen Konkurrenten schluckt, um sich potentielle Wettbewerber vom Hals zu halten. Solche Bedenken rechtfertigen die Prüfung durch die EU-Behörde aber nicht, urteilen die Richter. Die Kommission sei „nicht berechtigt, die Verweisung von geplanten Zusammenschlüssen ohne europaweite Bedeutung durch nationale Wettbewerbsbehörden an sie anzuregen oder zu akzeptieren, wenn diese nach nationalem Recht nicht für die Prüfung dieser Vorhaben zuständig sind“.
Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hält das Urteil offenbar nicht für das letzte Wort im Streit um eine Zuständigkeit ihrer Behörde. Die Dänin verwies am Dienstag darauf, dass bestimmte Übernahmen, die nach den geltenden Regeln in der EU nicht anmeldepflichtig sind, „dennoch den Wettbewerb in Europa beeinträchtigen können“. Ein Unternehmen mit geringem Umsatz könne als Start-up oder als „wichtiger Innovator“ erhebliches Wettbewerbspotential bergen. „Killer acquisitions“ hätten den Zweck, dieses Potential kleiner, aber vielversprechender Unternehmen zu neutralisieren. „Sie sollten vor dem Risiko geschützt werden, vom Markt verschwinden zu müssen“, sagte Vestager.
Fachleute erwarten vor diesem Hintergrund, dass die Kommission angesichts des Urteils mittelfristig versuchen wird, die geltenden Regeln zu ändern. Rupprecht Podszun, Kartelljurist an der Universität Düsseldorf und Mitglied der Monopolkommission, nannte das Urteil eine „heftige Schlappe“ der Kommission. „Jetzt werden Rufe nach Reformen in der Fusionskontrolle noch lauter werden.“ Ähnlich äußerte sich Jens-Peter Schmidt, Büroleiter der Kanzlei Noerr in Brüssel. Die Entscheidung sei juristisch sehr gut nachvollziehbar, sagte Schmidt. Sie stelle die neue Kommission aber vor heikle wettbewerbspolitische und praktische Herausforderungen.
„Nun kann die Kommission strategische Übernahmen von kleinen, aber besonders innovativen Unternehmen und Start-ups durch große Wettbewerber nicht mehr ohne Weiteres prüfen und verbieten.“ Er erwarte, dass die Kommission „neue Wege“ beschreiten werde, um solche Übernahmen weiterhin zu überprüfen, sagte Schmidt. Nicht zuletzt die in der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) festgelegten Bedingungen für eine Verweisung an die Kommission sind in der Diskussion.
Eine FKVO-Reform steht ferner wegen einer politischen Neuausrichtung der Fusionskontrolle zur Debatte. Sie ist von dem Gedanken getragen, dass bestimmte Zusammenschlüsse als politisch erwünscht zu gelten haben und nicht der Wettbewerbskontrolle zu unterwerfen sind. Als jüngstes Beispiel gilt die offenbar von Mario Draghi, dem Kommissionsbeauftragten für Wettbewerbsfähigkeit angeregte Idee, Rüstungsfusionen von der Fusionskontrolle auszunehmen. Podzsun sieht darin eher eine Gefahr. „Wenn eine Reform der Fusionskontrolle am Ende zu einer Schwächung der Fusionskontrolle führt, wäre das bitter.“ Die EU brauche nicht so sehr europäische Champions, sondern eine stärkere Konzentrationskontrolle.
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