Es fällt mir schwer, über den Krieg zu reden, weil es schmerzt. Es gibt kein Bild, das die akkumulierten Schmerzen des Krieges darstellen kann, wir sehen immer nur einen Teil der Wunde. Die Nachrichten wirken wie Schüsse, man wird von ihnen durchlöchert. Man denkt über das Geschehen nach, oder nein, es ist kein Darübernachdenken, es schmerzt, selbst der Schmerz schmerzt, er prallt ab wie eine Kugel und trifft noch jemand anderen.
In den letzten Tagen sind die russischen Angriffe auf friedliche Städte intensiver geworden. Aber natürlich, denkt man unwillkürlich, denn nach der Logik des Aggressors muss die ukrainische Zivilbevölkerung zwischen dem Unabhängigkeitstag und dem Beginn des Schuljahres besonders hart bestraft werden. Überdies ist es Rache für Kursk und Rostow. Aber kann man es überhaupt Rache nennen, ohne die Ukrainer, die man schützen möchte, zu gefährden? Drohnen und Raketen fliegen über die Stadt. Wieder sieht man zerstörte Häuser und Retter, die Menschen aus dem Schutt ausgraben, man sieht Tausende in der Kiewer U-Bahn dicht aneinandergedrängt. Ein Kraftwerk wird getroffen. Kein Licht. Man hat das alles schon so oft gesehen. Der dritte Sommer geht zu Ende.
Versteckter Schmerz
Ich schaue auf dieses Verkehrszeichen aus der Region Cherson, auf diese durchgeschossene Vorfahrt. Wir sind alle durchschossen, verstümmelt. Jede Nachricht trifft uns wie ein Schuss ins Innere. Jede Rakete, jeder Alarm, jeder tote Mensch, jede neue Ruine verursacht einen Schmerz, einen Zusammenbruch, als würden die Innenwände des Körpers in sich zusammenstürzen, und man müsste sich jeden Tag von Neuem selbst aufbauen, um nicht verrückt zu werden, um „normal“ zu sein. Es ist jedoch verrückt, dabei normal zu bleiben. Ich erinnere mich an Lena, die mehrfach nach Cherson gefahren ist, um Bedürftige mit Medikamenten zu versorgen. Vielleicht ist sie auch durch diese Vorfahrtstraße gekommen.
Vor Kurzem dachte ich an diesen „durchlöcherten“ Zustand, als ich durchschossene Schilder sah, zehn Tonnen davon. Der ukrainische Künstler Oleksiy Sai hat, zusammen mit Vitaliy Deynega, dem Gründer des Media Projekts Ukrainian Witness, beschädigte, verbrannte, vor allem aber durchschossene Schilder aus der Ukraine gesammelt und sie beim Festival Burning Man in Nevada ausgestellt. Straßenschilder und Wegweiser, Solarbatterien, Satellitenschüsseln, Zauntüren wurden in Form von riesigen Buchstaben aufgebaut: „I AM FINE “, die Standard-Antwort auf die Standard-Frage „How are you?“. Oleksiy Sais monumentales Werk verwandelt die zerstörten Welten in einen Zustand des Sich-Sammelns, Sich-Aufrichtens, Sich-Aufbauens. Sein Zeugnis des Krieges verweist auf Ambivalenz: In der permanenten Gefahr und Trauer müssen die Menschen ihre innere Hygiene pflegen, sie müssen „fine“ sein; zugleich verkörpert das Werk aus der Distanz einen Blick auf die Menschen, die diese Ruinen, diese Zerstörung in sich tragen. Es ist eine Frage der Optik: Was aus der Vogelperspektive als Ordnung, als fröhliche Aussage erscheint, wirkt aus der Nähe als vielfache Katastrophe und zerstörte Welt.
How are you? Ich bin okay. Ich denke an diejenigen, die an der Front sind, auch an diejenigen, die um ihre Liebsten trauern, aber sich bemühen, zu leben, ihren Schmerz in der Faust versteckt. Jeder Mensch in der Ukraine, der überhaupt psychisch gesund bleibt, „fine“, ist ein Held. Ich kenne viele, die fast optimistisch sind, aber auch Verzweifelte, denn man weiß nicht, wie es weitergehen soll und wie lange, ob die Welt uns allmählich vergisst. Aber auch das Schweigen vergrößert die Wunden: sei es die fehlende Diskussion über die unvermeidliche Zwangsmobilisierung oder die Risse im kulturellen Gewebe des Landes – auch das erzeugt Löcher und Schmerz. Ein Künstler sagte, in diesem Krieg gibt es Opfer, aber es gibt auch Opfer von Opfern.
Dann gehe ich in Berlin spazieren und treffe auf einen netten Bekannten, der meint, die Ukraine sei selbst schuld daran, dass der Krieg noch nicht zu Ende sei, und ich spüre den Schuss eines Pazifisten.
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