Zehn Jahre war Margrethe Vestager EU-Kommissarin für Wettbewerb, länger als jeder ihrer Vorgänger. Ihre beiden Amtszeiten, die erste unter Jean-Claude Juncker und die zweite unter Ursula von der Leyen, unterschieden sich grundlegend. In den ersten fünf Jahren konnte sich die Dänin auf die Durchsetzung des Wettbewerbs beschränken. Damit hatte sie großen Erfolg. In der zweiten, in der sie zusätzlich für Digitales zuständig war, rieb sie sich an anderen Fronten auf, etwa in Streitereien mit dem französischen Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Der Wettbewerbsschutz geriet dadurch zu einem Parameter unter mehreren.
Eine Konstante durchzog indes Vestagers gesamtes Mandat: der Kampf gegen die Plattformkonzerne, vor allem die amerikanischen „GAFAM“ ( Google , Apple , Facebook , Amazon , Microsoft ). Allen warf Vestager den Missbrauch von Marktmacht als Torwächter (Gatekeeper) ihrer Plattformen vor. Apple und Amazon standen zudem wegen einer für sie günstig wirkenden Steuerpolitik mancher Mitgliedstaaten im Visier der Kommission. Die Behörde hielt bestimmte Steuervorbescheide („tax rulings“) der Staaten zugunsten der Unternehmen für selektiv wirkende und damit unzulässige Beihilfen. Weder die vielen Verfahren gegen die Torwächter noch die Beihilfeverfahren wegen der Tax Rulings waren Vestagers Erfindung. Aber die Dänin profilierte sich vor allem in diesen Fällen.
Die Fälle von Google und Apple
In Vestagers Amtszeit eröffnete die Kommission auf beiden Feldern viele Verfahren und schloss sie ab, mit oft harten Auflagen und milliardenschweren Bußgeldern oder Rückzahlungsaufforderungen. Meistens fochten die betroffenen Unternehmen die Entscheidungen der EU-Wettbewerbsbehörde an und zogen nach Luxemburg, zunächst vor das erstinstanzliche EU-Gericht (EuG) und danach vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH), die letzte Instanz in europarechtlichen Streitfragen.
An diesem Dienstag entscheidet der EuGH an einem Tag über die beiden wichtigsten Fälle aus den genannten Teilbereichen des EU-Wettbewerbsrechts, kurz vor dem Ende von Vestagers Amtszeit. Es geht einmal um den mittlerweile 14 Jahre alten, 2010 eröffneten Google-Shopping-Fall, den Kartelljuristen die „Mutter aller digitalen Wettbewerbsfälle“ bezeichnen. Erstmals urteilt der EuGH dabei über den Google-Mutterkonzern Alphabet. Die Kartellbuße von 2,42 Milliarden Euro, die ihm die EU-Kommission im Juni 2017 auferlegt hatte, war damals ein Rekord gewesen. Wichtiger als die Buße war wohl die Brüsseler Auflage, dass die Google-Suchmaschine alle Preisvergleichsdienste gleich behandeln müsse und den eigenen Dienst Google Shopping nicht bevorzugen dürfe. Damit zwang Brüssel Google faktisch zur Änderung seines Geschäftsmodells.
Motor oder Bremsklotz
Der andere, ganz anders gelagerte, aber auch schon 10 Jahre alte, im Juni 2014 eröffnete Fall betrifft die Steuervorbescheide für Apple in Irland. Die Kommission hatte sie im August 2016 als einseitig bevorzugende Beihilfen eingestuft und das Unternehmen verpflichtet, die Rekordsumme von 13 Milliarden Euro an den irischen Staat – der das Geld nicht wollte – zurückzuzahlen. In beiden Fällen verging zwischen der Verfahrenseröffnung und der EuGH-Entscheidung viel Zeit. „Am Ende ist der Gerichtshof immer der mitentscheidende Motor oder Bremsklotz, wenn es um die Weiterentwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts geht“, sagt Rupprecht Podszun, Mitglied der Monopolkommission und Kartelljurist an dere Universität Düsseldorf.
Die juristische Bedeutung der beiden Fälle ergibt sich nicht in erster Linie aus den hohen Summen, um die es geht. Wichtig sind die Verfahren vor allem, weil die Kommission in beiden Rechtsgebieten, dem Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und dem Beihilfenrecht, Neuland beschritt. Der Google-Shopping-Fall ist der erste, in dem der EuGH darüber urteilt, ob das Vorgehen der Kommission gegen digitale Plattformkonzerne rechtens ist. In diesem Fall habe die Kommission den neuen Missbrauchstatbestand der Selbstbegünstigung definiert, sagt der Kartellanwalt Thomas Höppner von der Berliner Kanzlei Hausfeld, der seit vielen Jahren Unternehmen der Medien- und Werbewirtschaft gegen Google vertritt.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Auf dieser Definition aufbauend, hat die Kommission in zwei weiteren Google-Fällen (Android und AdSense) nicht nur weitere Milliardenbußen verhängt. Mit der Einstufung der großen Digitalkonzerne als „Torwächter“, die konkurrierenden Diensten den Zugang auf die eigene Plattform versperren und so den Wettbewerb behindern können, hat sie auch die Grundlage für das EU-Digitalgesetz (Digital Markets Act, DMA) geschaffen, das den Plattformkonzernen diese Art der Selbstbegünstigung grundsätzlich verbietet.
Auch der Apple-Steuerfall dürfte Präjudizcharakter haben, weil weiterhin umstritten ist, ob sich die „aggressive“ Steuergestaltung einzelner Konzerne und deren Unterstützung durch einzelne Staaten mit den Mitteln des Beihilfenrechts bekämpfen lässt. Die irische Regierung argumentierte vor dem EuG, die Kommission habe in ihrer Entscheidung gegen Apple und Irland gezeigt, dass sie das irische Steuerrecht nicht verstehe; außerdem liege die Steuerpolitik nicht in der Kompetenz der EU.
Anders als im Google-Shopping-Fall wird das EuGH-Urteil zu Apple nicht das erste seiner Art sein. Bisher haben die EU-Gerichte in Tax-Ruling-Fällen mal so, mal anders entschieden. Wegweisend ist das Verfahren aber schon deshalb, weil es in keinem anderen Fall um vergleichbar hohe Summen ging.
In einem grundsätzlichen Punkt unterscheiden sich beide Verfahren. Die Vorinstanz, das EuG, hat im Google-Shopping-Fall der Kommission recht gegeben und Googles Klage in den wichtigsten Punkten abgewiesen. Im Apple-Fall erklärte das EuG dagegen die Kommissionsentscheidung für nichtig und gab Apple und der irischen Regierung, die ebenfalls geklagt hatte, recht.
Ein Präjudiz für die endgültige Entscheidung sind die EuG-Urteile aber nicht, was sich schon in den Empfehlungen der zuständigen Generalanwälte am EuGH zeigt, die die jeweiligen Fälle für das endgültige Urteil vorstrukturieren. Im Google-Shopping-Fall empfahl Generalanwältin Juliane Kokott, d
em EuG zu folgen und der Kommission endgültig recht zu geben. Im Apple-Fall empfahl Generalanwalt Giovanni Pitruzzella dagegen, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und den Fall ans EuG zurückzuverweisen. Es heißt, in den meisten Fällen folgten die Richter den Empfehlungen des Generalanwalts. Im Google-Shopping- und im Apple-Fall muss das aber nicht gelten. Beide Fälle wurden in der Großen Kammer mit 15 Richtern verhandelt. Das lässt darauf schließen, dass der EuGH – der Bedeutung der Fälle entsprechend – den Generalanwälten nicht zwangsläufig folgen, sondern sich ein je eigenes Bild machen will.
Große Bedeutung haben die bevorstehenden Urteile auch aus einem generellen Grund. Nicht nur in den erwähnten und in anderen Beihilfefällen ist die Vestager-Kommission vor Gericht etwas zu oft auf die Nase gefallen. Auch in der Fusionskontrolle – im Fall Illumina/Grail – hat sie der EuGH erst in der vergangenen Woche in die Schranken gewiesen. Podszun sagt, in der Gesamtsicht hätten die Urteile „großen Einfluss darauf, welches Erbe Vestager hinterlässt“.
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