Die Zahl der Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Nordrhein-Westfalen seit 1984 ist höher als bislang angenommen. Zwischen 1984 und 2020 wurden vier Menschen mehr und damit nach bisherigem Kenntnisstand insgesamt 13 Personen Opfer tödlicher Angriffe durch rechtsextreme Gewalttäter. Zu diesem Ergebnis kam eine beim Landeskriminalamt NRW eingesetzte Forschergruppe aus Kriminologen, Psychologen und Gesellschaftswissenschaftlern, die alte Gewaltdelikte noch einmal untersucht haben.
Das interdisziplinäre Projektteam „Todesopfer rechter Gewalt in NRW“ („ToreG NRW“) nahm 30 in der Polizeistatistik bisher nicht als rechtsextrem-motiviert geführte Gewalttaten aus der Zeit zwischen 1984 und 2020 abermals unter die Lupe – mit dem Ergebnis, dass neben den vier genannten zusätzlichen Tötungsdelikten auch zwei Fälle von Körperverletzung nachträglich als Taten Rechtsextremer bewertet werden.
Dass in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland deutlich mehr Menschen Opfer rechtsextremer Gewalt wurden als in der offiziellen Statistik bisher ausgewiesen, zeichnete sich spätestens nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) Anfang November 2011 ab.
Neubewertung nach NSU-Morden
Seither ist klar: Zahlreiche zuvor nicht als rechtsextremistisch motivierte Morde und Mordversuche unter anderem in Nürnberg, Heilbronn, Köln oder Dortmund gehen auf das Konto des offensichtlich in der jeweiligen örtlichen Neonaziszene bestens vernetzten Terrortrios. Nach der derzeitigen behördlichen Zählung brachten Rechtsextremisten in Deutschland seit der Wiedervereinigung insgesamt 113 Menschen ums Leben. In Rechercheprojekten kommen „Tagesspiegel“ und „Zeit online“ dagegen auf 190 Todesopfer.
Unmittelbarer Anlass für das Projekt „ToreG“ in Nordrhein-Westfalen war die Neubewertung eines grausamen Dreifachmords. Ein Neonazi hatte im Oktober 2003 in Overath bei Köln einen Rechtsanwalt, dessen Ehefrau und Tochter erschossen. Der Jurist hatte erreicht, dass der verschuldete Neonazi ein Gehöft verlor, auf dem dieser Treffen von Rechtsextremisten veranstaltet hatte. Das Landgericht Köln hatte ihn 2004 zur Höchststrafe verurteilt, im Urteil aber lediglich vermerkt, dass die nationalsozialistischen Vorstellungen des Mörders bei der Tat eine Rolle gespielt hätten. Erst auf Hinweis eines Journalisten stufte das Landeskriminalamt den Fall im „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK) vor zweieinhalb Jahren als das ein, was er war: die Tat eines Rechtsextremisten.
Auch Mord an Obdachlosem neu eingestuft
Der nordrhein-westfälische Innenmister Herbert Reul (CDU) lobte „ToreG“ nun als „gelebte Fehlerkultur“. Dass die Polizei den Hinweis von außen aufgenommen habe, zeige, dass sie ein offenes, durchlässiges, atmendes System sei. „Die Behörden hören den öffentlichen Diskurs, der die Arbeit belebt. Und ToreG ist auch ein Beweis dafür, dass die Polizei den Kampf gegen den Rechtsextremismus sehr ernst nimmt.“
Das Forscherteam erstellte zu jedem Fall eingehende Analysen anhand von Urteilen und Ermittlungsakten, um möglichst viel über die Täter, ihre Motive, das Tatgeschehen, die Tatdynamik, die Opfertypologie, die Beziehung von Tätern und Opfern zu erfahren. Anhand dieses Rasters wurde ein Obdachloser, der 1995 in Velbert bei Essen in einem Park erstochen wurde, nachträglich als Opfer von Rechtsextremen identifiziert. Nach Einschätzung des Forscherteams handelte es sich um einen „klaren Fall von Sozialdarwinismus“, wie Projektleiter Jonathan Widmann sagt. Ein anderer Obdachloser starb 1997 nach einer brutalen Attacke von zwei jungen Männern mit einem Stahlrohr. Das Forscherteam ist überzeugt, dass die Täter den Rentner als Opfer ausgewählt hatten, weil er homosexuell war.
Opfer stellvertretend für alle Schwachen zu Tode getreten
Egon E. aus Duisburg wurde Anfang 1999 dagegen zum Zufallsopfer. An seinem Fall zeigt das Forscherteam exemplarisch, weshalb die Zuordnung bisweilen nicht einfach ist. Dass es sich bei den drei Tätern um Rechtsextreme handelte, stellte das Gericht in seinem Urteil seinerzeit fest. Die drei jungen Skinheads hatten sich im März 1999 zur Menschenjagd verabredet. Als ihre Mordlust den Frührentner E. traf, hatten sie schon mehrere Passanten verfolgt. Dann traten sie den nach einem ersten Angriff wehrlos am Boden liegenden E. mit ihren Springerstiefeln tot und entstellten ihn im Gewaltrausch bis zur Unkenntlichkeit.
Das Gericht verurteilte die Täter zwar auch in diesem Fall zu langen Haftstrafen. Weil E. aber ein Zufallsopfer war, wurde die Tat nicht als rechtsextremistisch motiviert gewertet. Das Forscherteam kommt nach der abermaligen Würdigung aller Umstände zu einem anderen Ergebnis. E. war zwar ein Zufallsopfer, das aber von den Tätern stellvertretend für alle Schwachen in der Gesellschaft ausgewählt wurde, wie Widmann sagt.
Neonazi erschoss drei Polizisten
Als weiterhin nicht rechtsextrem motiviert stufen die Forscher dagegen den Dreifachmord von Michael B. im Jahr 2000 in Dortmund und Waltrop ein. Der bekannte Neonazi hatte damals drei Polizisten erschossen. Nach Überzeugung des Forscherteams stellte man damals zutreffend fest, dass es sich bei den Taten um sogenannte Verdeckungsmorde gehandelt hat: Der Rechtsextremist habe die Beamten getötet, um Waffendelikte zu verbergen.
Auch den Brandanschlag in Duisburg, dem 1984 sieben Mitglieder einer türkischen Familie zum Opfer fielen, bewerten die Forscher nicht neu. Die Ermittlungen waren seinerzeit lange ohne greifbares Ergebnis geblieben. Zehn Jahre später gestand eine Frau die Tat. Als Motiv wurde Pyromanie ermittelt; die Täterin wurde vom Gericht als schuldunfähig in die Psychiatrie eingewiesen. Die Forscher fanden auch hier keine Anhaltspunkte für eine Falscheinschätzung.
Nicht mehr eingehend unter die Lupe nehmen konnte das Team anders als geplant unter anderem den Brandanschlag auf eine Notunterkunft für Balkankri
egsflüchtlinge Anfang 1994 in Köln mit zwei Toten. Organisationen wie die Opferberatung Rheinland ringen seit Jahren um eine Neubewertung des Falls. Die Staatsanwaltschaft ermittelte seinerzeit lediglich wegen Brandstiftung und nicht wegen Mordes oder Totschlags. Zu einer Anklage kam es nie. Der Fall verjährte nach zwanzig Jahren und die Akten bei der Staatsanwaltschaft wie auch bei der Polizei Köln sind mittlerweile vernichtet. In zwei weiteren Fällen aus den Jahren 1992 und 1994 blieb dem Forscherteam von „ToreG“ ebenfalls nichts anderes, als in ihrem Abschlussbericht lapidar „kein Zugriff auf Akten“ zu vermerken.
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