Le roi est mort, vive le roi! Gabriel Attal hat am Montag sein Rücktrittsgesuch im Élysée-Palast eingereicht. Und Präsident Emmanuel Macron hat den 35 Jahre alten Premierminister umgehend gebeten, die Regierungsgeschäfte vorerst weiterzuführen, „um die Stabilität Frankreichs zu gewähren“.
Nach dem Wahlausgang herrscht eine gewisse Erleichterung im Élysée-Palast vor, auch wenn unklar ist, mit welcher Mehrheit es weitergehen soll. Noch am Wahlabend hat der Präsident mitgeteilt, er wolle abwarten, wie sich das neue Parlament „strukturiert“, bevor er eine Entscheidung trifft.
Die Verfassung schreibt dem Präsidenten die Aufgabe zu, einen Premierminister mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Dabei muss der Staatschef Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse nehmen. Die sind nach den vorgezogenen Wahlen aber alles andere als eindeutig. Erstmals seit Bestehen der V. Republik kommt kein Parteienbündnis auch nur annähernd in die Nähe der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen.
Stärkste Kraft ist das rot-grüne Bündnis „Neue Volksfront“ mit 182 Sitzen. Dahinter folgt Macrons Bündnis mit 168 Abgeordneten. Der Rassemblement National (RN) zieht im Bund mit den abtrünnigen Republikanern mit 143 Abgeordneten in die Nationalversammlung ein. 2017 saßen nur acht Abgeordnete von Marine Le Pens Partei im Parlament. Seit 2022 waren es 89.
Das Ziel einer Regierungsmehrheit hat der RN verfehlt, aber die Zuwächse sind groß. Es gibt fortan also drei fast ebenbürtige Blöcke. Sie haben die Rechts-links-Spaltung bis 2017 abgelöst, die zuvor geordnete Machtwechsel zuließ. So unentschieden waren die Mehrheitsverhältnisse in der Parlamentskammer noch nie.
Das Kräfteverhältins innerhalb der Linken hat sich verschoben
Insider rechnen nicht damit, dass vor den Olympischen Spielen eine neue Regierungsmannschaft ernannt wird. Am 18. Juli tritt die Nationalversammlung zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Schon eine Woche später, am 26. Juli, sollen die Sommerspiele mit einer Parade auf der Seine feierlich eröffnet werden.
Der sozialistische Parteivorsitzende Olivier Faure hat für eine schnelle Vereinbarung auf den Namen eines möglichen Premierministers im Linksbündnis geworben. Die Sozialisten sind erstarkt aus dem Wahlbündnis hervorgegangen, das sich auf das historische Vorbild der Volksfront gegen die Gefahr des Faschismus in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts beruft. 1936 hatte der sozialistische Premierminister Léon Blum die Volksfront-Regierung geführt.
Die neue Volksfront setzt sich aus der Linkspartei LFI, Kommunisten, Grünen und Sozialisten zusammen. Sie knüpft an das sogenannte NUPES-Bündnis an, mit dem es der Linken 2022 gelang, gestärkt in die Nationalversammlung einzuziehen.
Das Kräfteverhältnis hat sich jetzt verschoben. Die Linkspartei LFI verfügt über 75 Abgeordnete, die Sozialisten über 65, die Grünen über 33 und die Kommunisten über neun Abgeordnete. Zuvor hatte LFI 75 Abgeordnete, aber Sozialisten (31) und Grüne (23) waren deutlich schwächer.
LFI hat zudem mehrere namhafte Abgeordnete ausgeschlossen beziehungsweise nicht aufgestellt, weil sie gegen die autoritäre Führung des Parteigründers Jean-Luc Mélenchon aufbegehrt hatten. Der Koordinator der Partei, Manuel Bompard, beanspruchte dennoch das Vorrecht für die Linkspartei, den Premierminister zu bestimmen. Es sei „republikanischer Brauch“, dass die stärkste Fraktion den Regierungschef auswähle.
Den Sozialisten schwebt ein anderes Verfahren vor. „Unser Land ist gespalten wie nie zuvor. Wir brauchen einen Webmeister, der das Land wieder zusammenfügt“, sagte Faure im Radiosender France Info. Faure mahnte, das rot-grüne Bündnis müsse an die zehn Millionen Franzosen denken, die ihre letzte Hoffnung in den Rassemblement National (RN) gesetzt hätten. „Wir müssen die Dörfer und die Hochhaussiedlungen zusammenbringen und ihr Bedürfnis nach Sicherheit ernst nehmen“, sagte Faure.
„Mélenchon hat der Linken wieder beigebracht zu siegen“
Die grüne Parteivorsitzende Marine Tondelier entwarf im Radiosender France Inter ein Phantombild des künftigen Regierungschefs, der auch aus der Zivilgesellschaft kommen könne. Er müsse das Land „befrieden und reparieren“, mit dem Programm der Neuen Volksfront übereinstimmen, Kompetenz und Erfahrung mitbringen und einen Konsens hervorrufen.
Letzteres war eine klare Anspielung auf den 72 Jahre alten Gründer der Linkspartei, der am Wahlabend als Erster seinen Führungsanspruch angemeldet hatte. Mélenchon ist bekannt für seine cholerischen Ausbrüche und seine autoritären Führungsmethoden. Tondelier wie auch Faure lehnen ihn als möglichen Premierminister ab.
Die bisherige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Mathilde Panot, sagte im Radiosender RTL, Mélenchon habe sich nicht als Kandidat für das höchste Regierungsamt disqualifiziert. „Jean-Luc Mélenchon hat der Linken wieder beigebracht zu siegen. Er hat Millionen Menschen die Hoffnung zurückgegeben, als er 22 Prozent bei den Präsidentenwahlen holte“, sagte Panot.
Die vier Parteien waren getrennt in den Europawahlkampf gezogen und hatten sich in den zurückliegenden zwei Jahren auch in der Nationalversammlung häufig gestritten. In Rekordzeit erarbeiteten sie nach dem 9. Juni ein 150-Seiten-Programm, das zwei außenpolitische Konfliktthemen abräumte. So haben sich die Sozialisten mit ihrer Forderung durchgesetzt, die Hamas als terroristische Organisation zu verurteilen. In der Linkspartei LFI hatte man die Hamas seit dem 7. Oktober als „Widerstandsbewegung“ dargestellt und sich mit Kritik zurückgehalten.
Außerdem verständigten sich die vier Parteien darauf, keine Friedensverhandlungen von der Ukraine zu verlangen, wie dies in der Linkspartei gefordert worden war. In dem Programm wird „die Notwendigkeit, die Ukraine und den Frieden auf dem europäischen Kontinent zu verteidigen“, betont. Beide außenpolitischen Durchbrüche gehen maßgeblich auf den EU-Spitzenkandidaten Raphaël Glucksmann zurück, der mit Unterstützung der Sozialisten 14 Prozent der Stimmen geholt hatte. Glucksmann warnt seit Langem vor dem russischen Imperialismus.
Auch in der Nahostpolitik steht er für einen klaren Kurs: Solidarität mit den Opfern der Hamas-Anschläge, aber auch Kritik am Vorgehen der Netanjahu-Regierung. Mélenchon verfolgt einen gänzlich anderen Kurs. Er umwirbt die überwiegend muslimisch geprägte Banlieue-Jugend mit propalästinensischen Thesen. Er verdächtigte Intellektuelle wie Glucksmann, den „Völkermord in Gaza zu verteidigen“. Als propalästinensische Studenten die Elitehochschule Sciences Po blockierten, schrieb er auf der Plattform X: „Die Jugend von Sciences Po rettet angesichts des Völkermords die Ehre Frankreichs.“
Mélenchon schloss gegen den Widerstand der anderen Bündnisparteien bei den Parlamentswahlen einen Pakt mit der Neuen Antikapitalistischen Partei, die wegen Terrorismusverherrlichung verklagt ist, weil sie die „Großoffensive der Hamas“ gefeiert hatte. Als vergangenen November alle Parteien, selbst der RN, gegen Antisemitismus in Paris demonstrierten, beteiligte sich Mélenchons Linkspartei nicht, vorgeblich weil die Demonstranten keinen Waffenstillstand forderten. In seinem Blog schrieb Mélenchon Anfang Juni, der Antisemitismus sei in Frankreich „ein Restposten“. Damit spielte er den explosionsartigen Anstieg antisemitischer Übergriffe seit dem 7. Oktober herunter.
Teure Wahlversprechen
Der Präsident des Dachverbands der jüdischen Organisationen CRIF, Yonathan Arfi, hielt Mélenchon vor, den Antisemitismus zu verharmlosen. Arfi warnte am Montag vor einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei. „Eine Koalition mit denjenigen, die seit Monaten eine antisemitische Kampagne führen, ist nicht möglich“, sagte der CRIF-Präsident. Eine Schlüsselfigur für Mélenchons Kurs ist die EU-Abgeordnete Rima Hassan, die den Spitznamen „Lady Gaza“ beansprucht. Neben der frankopalästinensischen Juristin trat der linke Wortführer am Abend nach dem ersten Wahlgang vor die Kameras.
Hassan ist nach eigenen Angaben in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien aufgewachsen und im Alter von zehn Jahren nach Frankreich gekommen. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober stellte sie wiederholt das Opfernarrativ auf den Kopf. Die Palästinenser sieht sie als unterdrückte Volksgruppe, mit der sich die benachteiligte Banlieue-Jugend in den französischen Vorstädten identifizieren könne.
Das sozial- und wirtschaftspolitische Programm der Neuen Volksfront liest sich, als hätte Frankreich einen fetten Haushaltsüberschuss zu verteilen. Die Rentenreform soll innerhalb von zwei Wochen rückgängig gemacht werden. Sozialistenchef Faure sagte am Montag, Macrons Regierung habe die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre mit dem Verfassungsartikel 49.3 beschlossen. Den gleichen Artikel könne man auch nutzen, um die Entscheidung rückgängig zu machen. Das Verfahren laut 49.3 bedeutet, dass ein Gesetz ohne weitere Abstimmung als angenommen gilt, wenn die Regierung nicht über einen Misstrauensantrag gestürzt wird.
Zu den weiteren Plänen zählt, den Mindestlohn von 1400 auf 1600 Euro zu erhöhen. Die Löhne der 5,7 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollen um zehn Indexpunkte angehoben werden. Das würde fast 20 Milliarden Euro kosten. Das rot-grüne Bündnis setzt auf Mehreinnahmen durch eine starke Besteuerung der Besserverdienenden. Die Vermögenssteuer, die in eine Immobiliensteuer umgewandelt worden war, soll wieder eingeführt werden. Statt fünf Steuerklassen soll es fortan 14 geben.
Zur Mehrheitsbildung ist das Linksbündnis auf andere Parteien angewiesen. „Ich bin bereit, mit allen republikanischen Parteien im Interesse Frankreichs und der Franzosen zusammenarbeiten“, sagte Außenminister Stéphane Séjourné, der die Präsidentenpartei leitet. Der Vorsitzende der Mitte-Partei Mouvement démocrate, François Bayrou, hat am Montag ebenfalls Gesprächsbereitschaft signalisiert. „Es bahnt sich ein Weg an. Wir müssen Schritte aufeinander zugehen“, sagte Bayrou im Radiosender France Inter. „Die erste Etappe besteht darin, dass wir einander als Partner anerkennen“, so Bayrou. Er glaube nicht, dass Frankreich unregierbar sei.
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