Das starke Wachstum der russischen Kriegswirtschaft ist für den Westen ein Ärgernis: Um 3,9 Prozent soll das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr laut der Regierung in Moskau wachsen. Der Internationale Währungsfonds ging in seiner Prognose vom April von einem Plus von 3,2 Prozent aus. Präsident Wladimir Putin kommt das sehr gelegen – so kann er behaupten, die westlichen Sanktionen schadeten Russland viel weniger als dem Westen selbst. Dabei heben Ökonomen hervor, dass die russische Wirtschaft nicht gesund sei, sondern stark „überhitzt“: Der Staat fördert mit Milliardenausgaben für die Rüstung und hohen Zahlungen an Soldaten die Nachfrage, die aufgrund von Arbeitskräftemangel nicht bedient werden kann. Die Folge sind immer höhere Löhne und eine stark steigende Inflation.
Der hohe Leitzins wirke, sagt auch Alexandra Prokopenko, die bis zu Russlands Überfall auf die Ukraine die russische Zentralbank beriet und nun als Fachfrau für die amerikanische Denkfabrik Carnegie in Berlin arbeitet. Kaum noch Unternehmen seien unter diesen Bedingungen bereit, ein Darlehen aufzunehmen. Auch das Auslaufen staatlich geförderter Hypothekenprogramme Ende Juni kühle den Kreditmarkt ab, so Prokopenko. Und russische Unternehmer gaben in einer gerade veröffentlichten Umfrage der Zentralbank an, dass sowohl Produktion als auch Nachfrage zurückgingen, was ebenfalls auf eine beginnende Abschwächung der Konjunktur hindeutet.
Zinserhöhung erwartet
Doch sind Inflation und Inflationserwartungen weiterhin hoch – die Teuerungsrate liegt bei knapp 9 Prozent und damit deutlich über der Prognose der Zentralbank, die für dieses Jahr von 6,5 bis 7 Prozent ausgeht. Manche Analysten gehen deshalb von einer weiteren Zinserhöhung der Zentralbank auf 19 oder sogar 20 Prozent an diesem Freitag aus; andere erwarten, dass wegen der Abkühlungstendenzen der aktuelle Zinssatz beibehalten wird.
Getrieben wird die Inflation vor allem von zu schnell steigenden Löhnen. Sie wachsen nicht nur dank der enormen staatlichen Ausgaben, sondern auch wegen akuten Arbeitskräftemangels, wie die Zentralbank hervorhebt: Die Produktionskapazitäten seien nahezu vollständig ausgelastet; im Juli lag die Arbeitslosigkeit auf dem Tiefstand von 2,4 Prozent. Das liegt an demographischen Schwierigkeiten, aber auch an dem Krieg, der viele Männer bindet und Zehntausende, oft gebildete Russen außer Landes getrieben hat.
Der Kampf um Arbeitskräfte führt dazu, dass die inflationsbereinigten Reallöhne im ersten Halbjahr um 9,4 Prozent über denen des Vorjahreszeitraums lagen, die Nominallöhne um 18,1 Prozent. Die realen verfügbaren Einkommen stiegen im zweiten Quartal dieses Jahres um 9,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum – so stark wie seit 2014 nicht mehr. Das liegt auch daran, dass der Staat mit immer höheren Prämien versucht, Soldaten anzuwerben. Zusätzlich zu den Einmalzahlungen für einen Vertragsabschluss verdienen Soldaten an der Front im Monat umgerechnet mindestens knapp 2000 Euro, mehr als doppelt so viel wie der Durchschnittslohn, der im Juni dieses Jahres laut offiziellen Angaben bei umgerechnet etwa 900 Euro lag. Die Zentralbank geht davon aus, dass die Löhne auch weiterhin steigen werden.
„Große politische Schwierigkeit für den Kreml“
Prokopenko zufolge könnte das eine „große politische Schwierigkeit für den Kreml“ werden. Das Tempo beizubehalten sei nicht möglich, da sich Unternehmen dies irgendwann nicht mehr leisten könnten. Löhne zu senken, etwa die Zahlungen an Soldaten oder an Beschäftigte im Rüstungssektor, sei aber „politisch nicht hinnehmbar“. Und dass die Arbeitsproduktivität steige, was die Unternehmen entlasten würde, sei wegen der Sanktionen nicht zu erwarten.
Auch die Zentralbank weist in ihren Veröffentlichungen regelmäßig auf die negativen Effekte der Strafmaßnahmen hin. So würden Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Ausrüstung und Ersatzteilen ebenso die Ausgaben der Unternehmen erhöhen wie Zusatzkosten für Logistik und im Zahlungsverkehr, heißt es in dem neuen Bericht.
Langfristig begrenzten die Schwierigkeiten beim Import von Technologie und der Verlust qualifizierter Arbeitskräfte das Wachstumspotential. Dies widerspricht der Kremllinie, wonach die Sanktionen Russland eher nützen, weil sie russische Hersteller dazu animieren, westliche Importe durch „vaterländische“ Produkte zu ersetzen. Prokopenko zufolge kann sich die Zentralbank so äußern, da die Wirtschaftspolitik eines von sehr wenigen Themen sei, „bei denen in Russland noch eine Art von Diskussion möglich ist“. Während es unmöglich sei, den Krieg oder Putin zu kritisieren, sei die Debatte darüber, wie die Sanktionen wirkten, durchaus erlaubt.
Jetzt schon von einer Abkühlung des Wachstums zu sprechen, hält Prokopenko für zu früh – es gebe lediglich „Anzeichen“ für eine mögliche Verlangsamung. Tatsächlich geht das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung, dessen Prognosen traditionell optimistischer ausfallen als jene der Zentralbank, von einem etwas besseren Szenario aus. Demnach wächst die Wirtschaft im kommenden Jahr noch um 2,5 Prozent. Da diese Prognose dem Haushaltsplan zugrunde gelegt wird, sei mit weiterhin hohen Staatsausgaben zu rechnen, sagt Prokopenko. Damit könne die Wirtschaft noch einige Zeit in ihrem „überhitzten“ Zustand bleiben.
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