Die ersten Worte, die Kamala Harris nach ihrer Bewerbung um die demokratische Präsidentschaftskandidatur an die Öffentlichkeit richtete, galten Joe Biden. Eigentlich stand die Vizepräsidentin am Montag für eine Feierstunde für Universitätssportler auf der Bühne am Weißen Haus. Doch Harris begann mit einer persönlichen Hommage an Biden, der sie keine 24 Stunden vorher darin unterstützt hatte, seine Nachfolge anzutreten. Biden habe in den vergangenen drei Jahren „so viel erreicht wie niemand sonst in der jüngsten Geschichte“, sagte Harris. Er habe bereits das Erbe der meisten Präsidenten übertroffen, die zwei Amtszeiten hinter sich hätten.
Dann fuhr Harris mit einer Erinnerung an Bidens Sohn Beau fort, der 2015 an einem Hirntumor starb. Sie seien damals beide Generalstaatsanwälte gewesen und Beau habe immer Geschichten über seinen Vater erzählt. „Die Charakterzüge, die Beau an seinem Vater verehrte, sind die gleichen, die ich jeden Tag bei unserem Präsidenten sehe: seine Ehrlichkeit, seine Integrität, sein Glaube und seine Familie. Sein großes Herz und seine Liebe, seine tiefe Liebe zu unserem Land.“ Sie sei „zutiefst dankbar“ für seinen Dienst an der Nation.
Tags zuvor war Bidens Ankündigung über Washington hereingebrochen wie eines der typischen Sommergewitter in der amerikanischen Hauptstadt. Nicht überraschend, aber in seiner Heftigkeit doch unvermittelt. Der Druck hatte sich schon eine Weile aufgebaut. Doch der amerikanische Präsident trotzte dem aufkommenden Wind, ignorierte die politische Wettervorhersage, bis er am Sonntagnachmittag einen Brief veröffentlichte. „Es war die größte Ehre meines Lebens, als Ihr Präsident zu dienen“, schrieb Biden. Doch auch wenn er sich zur Wiederwahl habe stellen wollen, glaube er, „dass es im Interesse meiner Partei und des Landes liegt, dass ich mich zurückziehe“. Ein Donnerschlag, der weit über die Hauptstadt hinaus zu hören war.
Keine Erleichterung für die Demokraten
Es ist eine Washingtoner Eigenschaft, dass auf ein Gewitter keine Abkühlung folgt. Meist wird es noch schwüler. Und so hat Bidens Rückzug die Demokraten zwar aufgerüttelt, aber wenig Erleichterung gebracht. Gut hundert Tage vor der Präsidentenwahl am 5. November muss die Partei einen Kandidaten aufstellen, der Donald Trump schlagen kann. Biden selbst bereitete nach der Ankündigung seiner Vizepräsidentin den Boden als Nachfolgerin: Kamala Harris sei 2020 seine „allererste“ und „beste“ Entscheidung gewesen. Sie habe seine „volle Unterstützung“.
Was folgte, war ein Wahlkampfstart im Zeitraffer. Harris gab ihre Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur bekannt, die sie sich „verdienen“ und die sie gewinnen wolle. Noch am Abend benannte sich die Biden-Harris-Wahlkampagne in „Harris For President“ um. Die Vizepräsidentin selbst, so berichtet es „Politico“, soll am Sonntag im Pullover ihrer Alma Mater, der Howard-University, in ihrem Haus gesessen und über zehn Stunden mehr als hundert Demokraten angerufen haben, um sich deren Unterstützung zu sichern. Vom frisch umbenannten Wahlkampfteam hieß es später, in den Stunden nach Bidens Rückzug seien knapp fünfzig Millionen Dollar von Kleinspendern eingegangen. Das war der beste einzelne Spendentag der Demokraten seit der Wahl vor vier Jahren.
Größer konnte der Kontrast zu dem Wahlkampf nicht sein, der mit Biden gerade geendet hatte. Bis nach der katastrophalen Fernsehdebatte gegen Trump die Frage von Bidens mentaler Eignung für eine weitere Amtszeit aufkam, waren die Wochen verhältnismäßig ereignislos dahingeplätschert. Schließlich stand seit Januar fest, dass es im November wahrscheinlich zu einem abermaligen Duell zwischen Biden und Trump kommen würde – das eine Mehrheit der Amerikaner ablehnte.
Kommt es hart auf hart, wird lange gewählt
Die Aufbruchsstimmung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Demokraten schwierige Zeiten bevorstehen. Es sind noch vier Wochen bis zum Parteitag in Chicago, auf dem der Präsidentschaftskandidat offiziell nominiert wird. In denen muss die Partei möglichst schnell entscheiden, welche Optionen sie ihren Wählern bieten will: eine Kamala Harris, die vom Establishment zur Kandidatin gemacht würde, oder mehrere Bewerber, die den rund 4000 Delegierten auf dem Parteitag in Chicago eine echte Wahl böten.
Die Delegierten sind nach Bidens Rückzug frei in ihrer Entscheidung, für wen sie stimmen wollen. Kommt es hart auf hart, wird in Chicago so lange gewählt, bis ein Bewerber die absolute Mehrheit hat. Doch unter den demokratischen Delegierten soll schon am Sonntag, kurz nach der Bekanntgabe durch Biden, ein Brief zirkuliert sein, in dem sie sich für Harris aussprachen. Man glaube, dass sie „die stärkste Kandidatin“ sei, und rufe die Delegierten und alle Wähler im November „respektvoll“ dazu auf, sie zu unterstützen. Die Republikaner wiederum warfen den Demokraten sogleich vor, mit einer unmittelbaren Nominierung von Harris einen echten Wettbewerb zu umgehen – ein Vorwurf, der in der politisch aufgeheizten Stimmung der Vereinigten Staaten schwer wiegt.
Zunächst war die Vizepräsidentin jedoch die Einzige, die Anspruch angemeldet hatte. In ihrer Stellungnahme am Sonntag versprach Harris, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, „um die demokratische Partei – und unsere Nation – zu vereinen“. Schon in den ersten Stunden sprachen sich mehr als 180 demokratische Kongressmitglieder und mehrere Gouverneure für Harris aus. Unter ihnen drei, die selbst als mögliche Ersatzkandidaten gehandelt wurden: Josh Shapiro, der Gouverneur von Pennsylvania, Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien, sowie Andy Beshear, Gouverneur von Kentucky.
Manche schweigen auffällig laut
Auffällig still ist es bislang in der demokratischen Parteiführung. Chuck Schumer, der Mehrheitsführer im Senat, und Hakeem Jeffries, der Minderheitsführer im Repräsentantenhaus – die beide Zweifel an Bidens Eignung für eine weitere Amtszeit durchgestochen hatten – äußerten sich am Sonntag voll des Lobes über Biden. Zu Kamala Harris aber schwiegen sie. Das dürfte daran liegen, dass man den Eindruck vermeiden will, sie voreilig als Ersatzkandidatin gekrönt zu haben. Auch Nancy Pelosi, die frühere Sprecherin des Repräsentantenhauses, lobte Biden am Sonntag als „patriotischen Amerikaner, der unser Land immer an erste Stelle gestellt hat“, erwähnte Harris aber nicht.
Nach der Fernsehdebatte zwischen Trump und Biden hatten Umfragen die Vizepräsidentin in einem möglichen Duell gegen Trump vor Biden gesehen. Doch sollte sie nun offiziell als Kandidatin für die Partei antreten, gilt es, sich auf ein Neues zu beweisen – ohne monatelangen Wahlkampf, in dem die Bewerber üblicherweise ihr Profil schärfen und ihre Belastbarkeit demonstrieren. Für Harris kommt hinzu, dass sie als Bewerberin nun aus Bidens Schatten heraustreten muss, ohne diesen in seiner Rolle als Präsident bis Januar 2025 zu beschädigen. Vonseiten der Republikaner hieß es unmittelbar nach der Bekanntgabe seines Rückzugs, wer nicht noch einmal antreten könne, könne auch nicht Präsident bleiben. Trump sowie Mike Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, forderten Bidens Rücktritt.
Im Vergleich zum Frühjahr haben sich zwischen Harris und Biden damit die Dynamiken umgekehrt. Noch vor einigen Monaten diskutierte man darüber, ob Biden Harris wegen ihrer Farblosigkeit möglicherweise als abermalige „Running Mate“ schassen könnte. Harris Versuch, Präsidentin zu werden, war 2020 schon vor dem Vorwahlkampf gescheitert, weil sie nicht genug Spenden eintreiben konnte. Damals riet man ihr, sich weniger auf ihre Zeit als Generalstaatsanwältin in Kalifornien und auf ihren Ruf als „Law and Order“-Demokratin zu berufen.
Sie könnte die Kernthemen der Republikaner ansprechen
Genau dieses Profil könnte ihr gegen Trump jedoch von Vorteil sein. Nicht nur weil der Präsidentschaftskandidat ein verurteilter Straftäter ist – zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Harris könnte damit auch auf die Kernthemen der Republikaner reagieren: den Vorwurf einer „Invasion“ von Migranten über die Südgrenze und wachsender Kriminalität im Land.
Trumps Wahlkampfteam gab sich nach dem Ausstieg Bidens überzeugt, Trump werde Harris mit links besiegen. Doch tatsächlich könnte der Wahlkampf mit ihr als Kandidatin – entschieden jünger, weiblich, schwarz – noch einmal eine Dynamik entfalten, die es in den vergangenen Monaten nicht ansatzweise gegeben hat. Zumal Trumps Vizepräsident J. D. Vance ähnliche Gruppen wie Trump ansprechen dürfte: weiße, ältere Amerikaner.
Außerdem muss Trump sich in manchem eine neue Erzählung zulegen. Bislang gehörte es zum täglich Brot des republikanischen Präsidentschaftskandidaten, seinen demokratischen Gegner zu verunglimpfen. Noch nach Bidens Rückzug am Sonntag setzte er auf seiner Plattform „Truth Social“ eine Reihe von Beiträgen ab, in denen er den Präsidenten beleidigte. Der „korrupte“ Biden wisse am nächsten Tag sicher nicht mehr, dass er zurückgezogen habe, schrieb er etwa. Dann äußerte er sich verärgert darüber, dass man gezwungen gewesen sei, „Geld und Zeit“ für den Kampf gegen Biden auszugeben – „und nun müssen wir wieder von vorn anfangen“.
Nun dürfte Trump der ältere Kandidat sein
Der dauernde Verweis auf Bidens Alter könnte Trump nun schaden. Nun dürfte er der Ältere sein: Es ist unwahrscheinlich, dass ein demokratischer Kandidat älter als 78 Jahre wäre. Kamala Harris ist 59 Jahre alt. Trumps Team ging am Sonntag denn auch unmittelbar zum Angriff auf die Vizepräsidentin über. In Werbespots, die unter anderem in den Swing States Pennsylvania und Georgia ausgespielt wurden, heißt es, Harris habe Bidens offensichtlichen geistigen Verfall vertuscht.
Der Lärm, der am Sonntag auf Bidens Rückzug folgte, stand im Kontrast zur Art und Weise der Ankündigung. Mit dem Brief, den Biden am Sonntag um 13.46 Uhr – als 46. Präsident – auf der Plattform X veröffentlichte, gingen für den Demokraten Wochen des öffentlichen Drucks und in gewisser Weise auch schon eine mehr als fünfzig Jahre lange Karriere in der demokratischen Partei zu Ende. Immer mehr Kongressmitglieder, immer mehr Vertraute hatten ihm ihr Vertrauen entzogen, ob öffentlich oder durchgestochen an amerikanische Medien. Lange schien es, als würde Biden mit jedem Zweifler nur sturer. In einem Interview vor zwei Wochen sagte er, nur der „Allmächtige“ könne ihn davon überzeugen aufzugeben.
Nun kam der späte Rückzug ohne Fanfaren. Manch einer hatte vermutet, Präsident Biden würde warten, bis seine Corona-Infektion abgeklungen ist, und sich dann in einer Rede im Rosengarten oder gar im Oval Office an die Amerikaner wenden. Doch Biden kündigte am Sonntag nur an, sich in dieser Woche noch mit Details äußern zu wollen. Er soll am Samstag aus seinem Privathaus in Rehoboth Beach bei Steve Ricchetti, einem seiner engsten Berater, angerufen und gesagt haben: „Ich brauche dich und Mike hier.“ Mike bezog sich auf Mike Donilon, seinen Chefstrategen und Redenschreiber. Gemeinsam sollen sie dann – wegen der Ansteckungsgefahr mit entsprechendem Abstand – bis in die Nacht den Brief formuliert haben.
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