Die Sache war erledigt, die Konkurrenz geschlagen. Da hätte sich der Mann in Gelb, Tadej Pogacar, am Samstag auf der 20. Etappe einen schönen Nachmittag machen können. Ein bisschen Tempo rausnehmen, ein bisschen vom dritten Triumph bei der Tour de France träumen, von der Siegerehrung am Sonntag in Nizza. Er hätte seine Kollegen vom Team UAE schonen können, die haben ja genug geschuftet während der ersten 19 Etappen.
Einen etwas ruhigeren Arbeitstag hatte Pogacar tags zuvor angedeutet, nachdem er am Freitag die 19. Etappe zu einem Rundumschlag gegen die Konkurrenz genutzt hatte. Selbst Jonas Vingegaard, der Tour-Sieger der vergangenen beiden Jahre, hatte auf der Königsetappe klein beigeben müssen. Mehr als fünf Minuten Vorsprung auf ihn hatte Pogacar nach dieser Etappe in der Gesamtwertung herausgefahren. Mehr als genug, um den beiden letzten Tagen, dem Ritt durch die Berge am Samstag, dem Zeitfahren am Sonntag von Monaco nach Nizza, gelassen entgegen sehen zu können. Der Kampf um den Sieg war damit entschieden, das räumte, tief enttäuscht, auch Vingegaard ein. Für ihn geht es bis Sonntag, bis zum großen Finale auf der Promenade des Anglais in Nizza noch darum, seinen zweiten Platz gegen den Belgier Remco Evenepoel zu verteidigen.
Pogacar mit Peitsche statt Zuckerwürfeln
Die 20. Etappe führte über 132,8 Kilometer von Nizza zum Gipfel des Col de la Couillole. Eine letzte Berg- und Talfahrt, nicht allzu lang, aber noch einmal schwer, sehr schwer. Noch einmal 4600 Höhenmeter und im Finale ein Anstieg auf 1700 Meter, 15,7 Kilometer lang, mit einer durchschnittlichen Steigung von sieben Prozent, das ist eine Menge.
An dieser Steigung fiel die Entscheidung. Das übliche Szenario. Eine Gruppe vorneweg, losgelassen dank eines Freifahrtscheins der folgenden Klassementfahrer. Drei Minuten Vorsprung für die Ausreißer, die verzweifelt versuchten, bis oben durch zu kommen. Die Gruppe der Stars dahinter. Und wie immer die große Frage. Greift einer an? Wer will die Gegner wann distanzieren? Wer will der Konkurrenz Zeit und Zuversicht nehmen? Die Standardantwort bis dahin war bei allen schweren Bergetappen: Pogacar. Er trat immer an, wenn es am schlimmsten wurde. An den steilsten Passagen. Würde er es an diesem Tag tatsächlich ruhiger angehen lassen? Den Konkurrenten ein Zuckerstückchen anbieten, einen Etappensieg? Oder würde er wieder die Peitsche auspacken?
Er entschied sich für die Peitsche. Doch bis dahin ließ er sich Zeit. Sieben Fahrer gingen an der Spitze mit drei Minuten Vorsprung in den letzten Anstieg. Als noch zwölf Kilometer zu fahren waren, waren es noch sechs, alles Klettermaxen, darunter der Ecuadorianer Richard Carapaz, der Spanier Marc Soler, der Franzose Romain Barden und der Niederländer Wilco Kelderman. Dann setzten sich Carapaz und Mas ab. Noch acht Kilometer, und ihr Vorsprung betrug noch 1:50 Minuten. Es wurde eng. Und es kam darauf an, was weiter hinten passierte.
„Ich habe die Etappe heute sehr genossen“
Zunächst nicht viel. Die Gruppe der Favoriten wurde kleiner. Marc Soler, Pogacars letzter Helfer, ließ sich zurückfallen und der gemütliche Tag wurde wieder zur Chefsache. Pogacar gegen den Rest der Welt. Was soll er machen. Einer müsse halt gewinnen, hatte er tags zuvor gesagt. Noch fünf Kilometer. Der Showdown begann mit einer Attacke von Evenepoel. Vingegaard blieb dran, Pogacar auch. Dann ein Konter von Vingegaard, den man im Fußball eine schnelle Umschaltaktion nennen würde. Er griff seinerseits an und machte aus dem Feld der Favoriten ein Duell. Nur noch er und Pogacar. Noch zwei Kilometer und sie überholten Mas und Carapaz. Nun die große Frage: Überlässt Pogacar dem tags zuvor schwer geschlagenen und nun so verzweifelt kämpfenden Konkurrenten die Vorfahrt? Gönnt er ihm diesen Etappensieg? Ein wenig sah es zunächst danach aus.
Doch 250 Meter vor der Ziellinie trat er an und ließ Vingegaard zurück. Sein fünfter Etappensieg bei dieser Tour. Aus einem Tag, den er eigentlich nur genießen wollte, war wieder ein Pogacar-Tag geworden. Das eine muss dem anderen nicht widersprechen. „Ich habe die Etappe heute sehr genossen“, sagte der Slowene im Ziel. Sein Sieg war eine weitere schmerzhafte Niederlage für Vingegaard, der nur den Trost hatte, dass er Evenepoel auf Distanz hielt und den Zeitabstand auf 2:50 Sekunden vergrößerte. Das sollte reichen, um im Zeitfahren am Sonntag Platz zwei gegen den Weltmeister in dieser Disziplin zu verteidigen.
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