Im Gerichtssaal in Avignon begrüßen sich die Angeklagten wie alte Kumpel aus dem Fußballverein oder dem Kegelklub. Dabei verbindet die 50 Männer eine schreckliche Tat: Sie sollen die bewusstlose Gisèle P. im Ehebett vergewaltigt haben, unter Aufsicht ihres damaligen Mannes Dominique P., des Hauptangeklagten. Die 72 Jahre alte Französin sieht im Gerichtssaal zum ersten Mal den Männern ins Gesicht, die sich an ihr vergangen haben, als sie unter heimlich von ihrem Mann verabreichten Arzneimitteln wie im Koma vor sich hin dämmerte.
Doch nach dem zweiten Prozesstag ist auch klar, dass sich die meisten Angeklagten keiner Schuld bewusst sind. „Nein, ich gebe die Taten nicht zu“, lautet die einmütige Antwort von 35 der 51 Angeklagten. Dominique P., der Ehemann, ist geständig. Die Beweislast, mehr als 20.000 Fotos und Videomitschnitte, ist überwältigend. Aber seine Komplizen im Alter zwischen 26 und 74 Jahren, die im Umkreis von 25 Kilometern vom damaligen Haus des Ehepaars in der Provence lebten, wollen mehrheitlich den Straftatbestand der Vergewaltigung nicht erfüllt sehen. Mehrmals scheint es, als hätten sie sich abgesprochen. 18 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Vor den Strafrichtern erwecken sie den Eindruck, als sei es unerheblich, dass sie teilweise bis zu sechsmal kamen und gefilmt wurden. Sie tauschten auch belastende Nachrichten aus: „Wirkt die Schlaftablette?“
Vor Gericht beriefen sich die Angeklagten auf ein „libertäres Spiel“, das Dominique P. auf der Website coco.gg angeboten habe. Der Hauptangeklagte unterhielt auf der inzwischen verbotenen Seite einen Chatroom mit dem unmissverständlichen Titel „À son insu“ (Ohne ihr Wissen), um die Männer anzulocken. Ein Angeklagter behauptete, die Frau habe eingewilligt, „da ihr Geschlechtsteil feucht war“. Ein anderer sagte aus: „Ab dem Moment, in dem der Ehemann da ist, liegt keine Vergewaltigung vor.“ Mehrere stellten es so dar, dass sie von Dominique P. „reingelegt“ wurden. Ein Angeklagter sprach von einer „unbeabsichtigten Vergewaltigung“.
Seine Tochter fotografierte er heimlich nackt
Vier Stunden lang hat der Vorsitzende Richter die Anklageschrift verlesen. Auch wenn besonders ungeheuerliche Details durch die juristische Sprache entschärft wurden, war die Lektüre insbesondere für die Tochter Caroline Darian unerträglich. Denn nicht nur an ihrer Mutter verging sich ihr Vater, er zerstörte auch das Vertrauensverhältnis zur einzigen Tochter, die er heimlich nackt fotografierte und filmte. In ihrem Buch „Et j’ai cessé de t’appeler Papa“ („Und ich habe aufgehört, dich Papa zu nennen“) legt sie nahe, dass der Vater auch sie betäubt haben könnte, um sie nackt zu fotografieren. Auch ihre Schwägerinnen wurden von Dominique P. im Badezimmer gefilmt. Der Rentner hatte in einem Kulturbeutel eine Kamera versteckt, um die Frauen nackt aufnehmen zu können. Die Stille im Saal wurde bedrückend, als der Richter vortrug, dass das Hauptopfer Gisèle P. völlig bewusstlos gewesen sei, „als hätte man sie betäubt“. Die wenigen Bewegungen seien Reflexreaktionen auf den Schmerz gewesen. Der Richter erinnerte daran, dass Dominique P. den Kopf der Bewusstlosen beim Oralsex festhielt, damit er nicht zur Seite rollte.
Caroline Darian wurde kurz vor Ende der Anklageschrift unwohl, sie zitterte und musste den Saal verlassen. Ihre beiden Brüder und ihre Mutter stützten sie. Darian hat einen Verein mitbegründet, um über die zunehmenden Straffälle „chemischer Unterwerfung“ aufmerksam zu machen. In Frankreich hatte der Fall der Abgeordneten Sandrine Josso Aufsehen erregt, die von einem befreundeten Senator, Joël Guerriau, ein Glas Champagner mit Beruhigungsmitteln erhielt. Der Senator wollte sie auf diese Weise gefügig machen, aber sie schaffte es mit letzter Kraft, ihm zu entkommen. Josso ist die Sprecherin von Darians Verein.
„Ich stand ihm sehr nahe“
„Ich möchte diesen Schlamm in ein edles Material verwandeln“, schreibt die Tochter in ihrem Buch. Der 2. November 2020 sei ein „Wendepunkt“ in ihrem Leben gewesen. An dem Tag habe ihre Mutter sie angerufen und gesagt: „Dein Vater hat mich seit vielen Jahren unter Drogen gesetzt, um mich zu vergewaltigen und von anderen Männern vergewaltigen zu lassen.“ Es war, als sei eine Rakete mitten im Wohnzimmer eingeschlagen. „Alles bricht auseinander. Wir waren eine enge, scheinbar ganz normale Familie mit einem fürsorglichen Vater. Ich stand ihm sehr nahe: Wir trieben zusammen Sport, er war es, der mich morgens zur Schule und später zum Sport brachte, der mich begleitete, als meine Abiturergebnisse bekannt gegeben wurden.“
Ihre Mutter habe nichts geahnt. Aber Caroline Darian blickte auch selbstkritisch zurück. „Wenn ich in den Rückspiegel schaue, muss ich zugeben, dass er ein Borderliner war. Er hat immer gelogen und die Dinge auf seine Weise geregelt: Schulden, Kredite“, sagte sie in einem Interview in „Le Parisien“. 2011 habe ihn eine seiner Schwägerinnen dabei ertappt, wie er vor seinem Computer masturbierte. Der Vorfall war in der Familie tabu. „Ich denke, dass er schon vor 2011 auf die schiefe Bahn geriet“, sagte Darian. „Man wird nicht über Nacht zum Perversen.“
Er sei „einem Impuls gefolgt“
Auch die französische Justiz hegt den Verdacht, dass Dominique P. schon zuvor sexuelle Straftaten begangen haben könnte. Im Oktober 2022 wurde er aus seiner Zelle in der Haftanstalt Les Baumettes in Marseille geholt, in der er in U-Haft einsitzt. Zwei Ermittler der Kriminalpolizei in Paris verhörten ihn auf Antrag einer Untersuchungsrichterin der neu gegründeten Abteilung für Cold Cases. Die Untersuchungsrichterin hatte festgestellt, dass sich Dominique P.s DNA-Spuren auf einem Schuh einer Frau befanden, die 1999 Opfer eines Vergewaltigungsversuches geworden war.
Die Frau, Estella B., arbeitete als Immobilienmaklerin in Villeparisis bei Paris, als sie von einem Mann, dem sie zuvor eine Wohnung gezeigt hatte, überwältigt wurde. Er würgte sie, legte ihr ein Cuttermesser an den Hals und fesselte ihre Hände hinter ihrem Rücken. Dann drückte er ihr eine mit Äther getränkte Kompresse auf den Mund und zog ihr Schuhe und Hose aus. Das bewusstlose Opfer kam schneller als erwartet zu sich und konnte sich befreien. Dominique P. hat im dritten Verhör gestanden, dass er einem „Impuls“ gefolgt sei, als er an der Immobilienagentur vorbeikam. Er leugnete jedoch, dass es sich um einen Vergewaltigungsversuch gehan
delt habe.
Die Ermittler untersuchen auch eine mögliche Verbindung zu einem noch älteren Fall. Am 4. Dezember 1991 war eine junge Frau, Sophie Narme, in Paris unter ähnlichen Umständen vergewaltigt und ermordet worden. Sie hatte einem Mann eine Wohnung gezeigt, der sie dann würgte, auf den Bauch legte, ihre Hände hinter ihrem Rücken fesselte und sie mit Äther betäubte.
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