Menschen sind kaum verwundbarer, als wenn sie aus dem Schlaf gerissen werden. Der israelische Journalist Amir Tibon vernahm am frühen Morgen des 7. Oktobers 2023 ein Pfeifen, ein halb vertrautes Geräusch, das sich beinahe noch in seine Träume mischte. Es war seine Frau Miri, die das Pfeifen schneller zuordnen konnte: Es gehörte zu einer Mörsergranate, die aus Gaza abgeschossen worden war. Mit einem Einschlag, womöglich im eigenen Haus, war nun in jedem Moment zu rechnen. Die Zeit reichte gerade noch, um die Handys zu ergreifen, ein wenig Wasser mitzunehmen und zu einem Schutzraum zu laufen, in dem die beiden kleinen Töchter Galia und Carmel schliefen. Ein Vorgang, wie er für die Bewohner des Kibbuzes Nahal Oz im Süden Israels schon zur Routine gehörte. Nur war an diesem Morgen etwas deutlich anders. Denn der Beschuss hörte nicht auf, und Hilfe von Sicherheitskräften und vom Militär, das ganz in der Nähe einen Stützpunkt unterhielt, traf nicht ein.
Mit der Dramaturgie eines Thrillers beschreibt Amir Tibon in seinem Buch „Die Tore von Gaza“ diese ersten Eindrücke an einem Tag, der zu einer Zäsur wurde. Denn obwohl sich das Massaker der Hamas an der Südgrenze Israels an diesem Tag in eine lange Reihe von Akten der Gewalt und Gegengewalt einordnen lässt, markiert der 7. Oktober doch einen Punkt, der eine grundsätzlichere Entscheidung erfordert. So deutet es Tibon jedenfalls gegen Ende seines Buches an, als er für einen Moment den Gedanken zulässt, dass er und seine Mitmenschen aus Nahal Oz (und im weiteren Sinn der Staat Israel mit den besetzten Gebieten und den arabischen Nachbarn) sich vielleicht von diesem Ereignis nie mehr erholen werden.
Ein Ort als Schlüssel
Doch schon der Umstand, dass er dieses Buch geschrieben hat und wie er es geschrieben hat, weist in die andere Richtung. Amir Tibon ist ein herausragender Zeuge, dem man sich für eine Perspektive auf den 7. Oktober getrost anvertrauen kann. Er ist Journalist der Tageszeitung „Haaretz“, eines der Leitmedien in Israel. Er hat mit einem Kollegen eine Biographie über Mahmud Abbas, den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, geschrieben, er ist also mit beiden Seiten in dem langen Konflikt um Grenzen und Land vertraut, der mit der Gründung des Staates Israel 1948 begann, aber noch viel tiefere Wurzeln hat. Vor allem aber ist Tibon berufen, alle diese Geschichten zu erzählen, weil er seit 2014 in Nahal Oz gelebt hat. Dieser Ort ist der Schlüssel zu seinem Buch und damit auch der Schlüssel zu den ganzen Interpretationen, Einordnungen, Ansprüchen, um die nun schon das ganze Jahr erbittert debattiert und gefochten wird. Nahal Oz macht all das konkret, was im Meinungsstreit auf die Ebene des Prinzipiellen gehoben wird.
Die Kibbuz-Bewegung war für den jungen Staat Israel (und schon für die zionistische Einwanderung nach Palästina davor) konstitutiv. Gemeinschaftliche Bestellung des Landes war ein Ideal, aber auch eine Praxis, und als es ab 1948 Grenzen zu verteidigen gab, gingen viele junge Leute an diese Grenzen und errichteten dort Siedlungen. Nahal Oz liegt in Sichtweite von Gaza, von einem Hügel kann man fast das Meer sehen. Diesen besonderen Punkt wählten die Bewohner für den Friedhof, und der erste Mann, der hier im April 1956 begraben wurde, war schon ein Opfer des Konflikts.
Amir Tibon und seine Frau Miri sahen sich in der Tradition der ersten „Saatgruppen“ von damals, als sie 2014 nach Nahal Oz zogen. Sie hatten auch nachvollziehbare praktische Gründe; das Wohnen in Tel Aviv wird immer teurer. Sie sehnten sich aber auch einfach nach Natur, und davon bekamen sie im Süden mehr als nur einfach gute Luft und freundliche Vegetation. Sie erlebten so etwas wie eine Mystik der Beziehung zu einem Stück Land. Dafür nahmen sie in Kauf, dass in der Gegend zu jedem Haus ein Schutzraum gehört und dass die Gefahr aus Gaza, wo seit 2007 die Hamas an der Macht war, immer gegeben war. Eine islamistische Organisation, zu deren Programm auch die Auslöschung des Staates Israel zählt. Amir und Miri hofften auf einen Geist jenseits der destruktiven Politik. In Nahal Oz leben vorwiegend Menschen, die im weiteren Sinn zur Friedensbewegung in Israel gehören. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit war eng. Galia und Carmel kamen zur Welt. Sie erlebten ihre Kindheit als ein Paradies, in dem jeden Augenblick mit Alarm zu rechnen war.
Zwei parallele Geschichten
„Die Tore von Gaza“ erzählt vom 7. Oktober in einer mehrfachen, verschränkten Bewegung. Die erste nimmt ihren Ausgang von der Familie, die sich vor den Mörsergranaten in Sicherheit gebracht hat und nun in diesem Schutzraum sitzt. Es ist dunkel, eng, die Luft wird immer dünner, die beiden Mädchen müssen unbedingt ruhig bleiben, die Eltern suchen nach dem richtigen Maß an Trost und Aufrichtigkeit. Die Handybatterien werden allmählich schwächer, draußen sind Schüsse zu vernehmen. Die Stunden verrinnen, ohne dass Hilfe auftaucht. Zu diesem Zeitpunkt ist Amir Tibons Vater schon auf dem Weg in den Süden. Der ehemalige Berufssoldat hat sich mit seiner Frau in ein Auto gesetzt und ist losgefahren. Nur ganz allmählich wird Israel an diesem Tag klar, welches Ausmaß der Angriff der Hamas hat – und wie unvorbereitet das Land ist, auch wegen des jüdischen Feiertags Simchat Tora. Israel feiert die jüdische Freude am Gesetz, viele Soldaten, die eigentlich an der Südgrenze ihren Dienstort haben, sind zu ihren Familien gefahren.
Parallel erzählt Tibon die Geschichte des modernen Staates Israel, wobei ihm Nahal Oz dabei immer als wesentliches Kriterium dient. Denn hier kann man wie unter einem Brennglas sehen, wie sich bestimmte politische Weichenstellungen im Alltag niederschlagen. Auf diese Weise wird erst so richtig nachvollziehbar, was man vielleicht manchmal schon als eine ermüdende Abfolge immer ähnlicher Schlagzeilen abzutun geneigt war, bevor der 7. Oktober auch eine gewisse „News Fatigue“ dramatisch unterbrach.
Tibon bringt die Ereignisgeschichte wieder ganz nahe. Er hat einen guten Sinn für Details und symbolisch aufgeladene Momente. Er erinnert an Mosche Dajan, einen der ersten Falken in der israelischen Außenpolitik, der 1956 in Nahal Oz eine Rede gehalten hatte, mit der er ersuchte, „den Standpunkt der anderen Seite anzuerkennen, ohne dabei auch nur einen Zentimeter der nationalen Bestrebungen des eigenen Volkes preiszugeben“. Tibon weiß, dass er an diesem Punkt auf etwas trifft, was sich nicht auflösen lässt. Denn diese Mystik des Landes, die er zwischen den Baumwollfeldern und Eukalyptuswäldern von Nahal Oz nachvollziehbar macht, gibt es, mit der gleichen Berechtigung, auch auf der Seite der Palästinenser, und oft ist es eine Mystik des verlorenen Landes.
Die Logik eines Hollywoodfilms
Was „Die Tore von Gaza“ in dieser Aporie allein geltend machen kann, ist eine einfache Tatsache: Zu jeder Mörsergranate, die aus einem ideologischen, religiösen, nationalistischen oder ähnlichen Grund abgeschossen wird, zu jedem Bombardement, das jetzt Gaza verwüstet, gibt es eine individuelle Ebene, die zur Norm der Politik werden müsste. Zu den besten und bedrückendsten Passagen des Buches zählen die, in denen eine kleine Gruppe von Hilfskräften in Nahal Oz am Vormittag des 7. Oktobers erste Verteidigungsaktionen organisiert – das Geschehen und die Erzählung folgen der Logik eines Hollywoodfilms, aber man begreift wieder einmal etwas von der ungeheuren Kraft des Lebens und von der Ungeheuerlichkeit, die in jedem Tod aufscheint.
Als er sein Buch kürzlich in Berlin präsentierte, kam Tibon auch auf die Konsequenzen zu sprechen, die er sich für Israel erhofft. Alle, die in Israel an diesem Tag Verantwortung innehatten, von Ministerpräsident Netanjahu abwärts bis zu Führungskräften der Streitkräfte, müssten sofort zurücktreten. Für Tibon wie für viele andere zeigte sich am 7. Oktober ein Staatsversagen, das dem fundamentalistischen Regime auf der Gegenseite gleichzusetzen ist. Die Befreiung der noch lebenden Geiseln müsste unbedingte Priorität haben, auch das machte er noch einmal deutlich. Das war auch die einzige Botschaft, die er für den amerikanischen Präsidenten Joe Biden hatte, als der bald nach dem Angriff nach Israel reiste und mit einigen Betroffenen den persönlichen Austausch suchte.
Was könnte eine Lösung sein?
Amir Tibon wollte dieses Buch nicht schreiben. Professioneller Journalismus mit allen seinen besten Tugenden hat immer noch etwas Unangemessenes angesichts eines Geschehens, von dem man durch Erzählen zwar eine erste Ebene der Verarbeitung erreichen kann, das aber nach einer prinzipielleren Reaktion zu verlangen scheint. Einer Zäsur begegnet man nicht mit einer Fortsetzung des immer Gleichen. Genau das scheint aber derzeit der Fall zu sein. Von Netanjahu, dem Ministerpräsidenten, der in der Lebenszeit des 1989 geborenen Amir Tibon allgegenwärtig ist, ist nichts anderes mehr zu erwarten.
Die einzige Lösung scheint er in einem Typus von Politiker zu sehen, für den Mosche Dajan stand, aber auch Jitzhak Rabin oder zuletzt Naftali Bennett: Sie verkörpern eine pragmatische Wehrhaftigkeit, die den „Standpunkt der anderen Seite“ nicht verdrängt oder in einem zynischen Kalkül aufhebt, wie es die „Psychopathen und Egomanen“ auf beiden Seiten immer wieder tun. Von Bennett erzählt Tibon, dass er zu der Beerdigung eines der Opfer aus Nahal Oz kam – der Politiker, der mit seiner „heterogenen Koalition“ für einen kurzen Augenblick der Hoffnung vor der Katastrophe gestanden hatte.
Nun lebt Amir Tibon mit seiner Familie in einem Ausweichquartier in Nordisrael. Er war seither schon wieder einige Male in Nahal Oz, soweit es die Sicherheitslage zuließ. Das Gemeindearchiv, das historische Gedächtnis, wurde am 7. Oktober nicht beschädigt. Das ist immerhin ein kleines Hoffnungszeichen. Ob die Familie aber irgendwann an diesem so innig geliebten Ort noch einmal leben wird? Das ist eine Frage, die an die Fundamente der Legitimität des Staates Israel rührt. Denn Nahal Oz liegt eben nicht nur an der Grenze zu Gaza, sondern auch an der Grenze, an der Selbstbehauptung sich regelmäßig als destruktiv erwiesen hat. Wenn an dieser Grenze noch einmal Heimat entstehen soll, wie Mosche Dajan es erhoffte, braucht es vermutlich ein neues Verständnis von Land.
Amir Tibon: „Die Tore von Gaza – Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung“. Aus dem Englischen von Ursula Kömen, Suhrkamp Verlag, 432 Seiten, 26 Euro
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