Flankiert von zwei Flaggen, steht die Bronzestatue Jewgenij Prigoschins auf dessen Grab auf dem Porochowskoje-Friedhof am nordöstlichen Stadtrand von Sankt Petersburg. Links hängt schlaff die schwarze Fahne von Prigoschins Wagner-Miliz, rechts Russlands Trikolore. Auf der Böschung, wenige Meter oberhalb des Grabes, braust der Verkehr stadtauswärts.
Der Bronze-Prigoschin in Jacke mit hochstehendem Kragen und drei Orden an der Brust hat die linke Hand vorgestreckt, als wollte er etwas erklären oder jemanden auffordern, sich ihm anzuschließen. Zum Beispiel Häftlinge. Prigoschin warb sie von Sommer 2022 bis Anfang 2023 auch persönlich an, machte erst im Zuge dieser Rekrutierungen seine Rolle als Chef der Wagner-Miliz öffentlich. Ohne Präsident Wladimir Putins Mitwirkung unter anderem an Begnadigungen der Sträflinge wäre diese Aktion nicht möglich gewesen.
Doch brachten Wagners wachsendes Gewicht und der persönliche Ehrgeiz Prigoschin zusehends in Konflikt mit dem Militär, das die Häftlinge schließlich nur noch selbst anwarb. Der Konflikt gipfelte in Prigoschins kurzem Aufstand im Juni 2023; sein Tod bei einem Flugzeugabsturz nahe Moskau zwei Monate später folgte.
Formal wird in dieser Sache noch ermittelt, aber von Ergebnissen ist nichts bekannt. Inoffiziell maßgeblich ist die vor bald einem Jahr von Putin verbreitete Version, es habe keine „äußere Einwirkung“ auf das Privatflugzeug gegeben; vielmehr habe man in den Leichnamen der insgesamt zehn Todesopfer „Handgranatenfragmente“ und bei einer Razzia „im Unternehmen“ Prigoschins „fünf Kilogramm Kokain“ gefunden. Das soll heißen, der „talentierte Geschäftsmann“, wie Putin Prigoschin kurz nach dem Absturz genannt hatte, und seine Männer hätten sich berauscht selbst in die Luft gesprengt. Dabei habe, schrieb der in Sicherheitskreise vernetzte Telegram-Kanal WTschK-OGPU, kein einziger der Leichname Spuren von Rauschgift oder Alkohol aufgewiesen. Das Flugzeug sei durch eine „schwache“ Explosion irreparabel beschädigt worden und noch sechs Kilometer weit geflogen, wobei Telekommunikationsnetze gestört worden seien, um jede Kommunikation der Insassen unmöglich zu machen.
Warum Prigoschin trotzdem als Held verehrt werden kann
Putin hat aber konzediert, dass Prigoschin, der „im Leben ernste Fehler gemacht“, doch „Ergebnisse geliefert“ habe, „für sich selbst und, als ich ihn darum bat, für die gemeinsame Sache“. So bleibt die Heldenverehrung des Aufrührers in Russland statthaft. Die neue Bronzestatue hat ein Holzkreuz ersetzt, kurz bevor Prigoschin am 1. Juni 63 Jahre alt geworden wäre.
Sie zeigt „Putins Koch“, der als Petersburger Gastronom und mit Verpflegungsaufträgen für die Armee, Schulen und Kindergärten reich wurde, als „Bürger“, „Patrioten“ und „Helden Russlands“, wie der Bildhauer, Jaroslaw Barkow, dem Petersburger Newsportal Fontanka sagte; Prigoschins „Mama“ habe darauf bestanden, ihn so darzustellen. Die drei Orden auf der Bronzebrust zeigen Auszeichnungen durch Putin sowie die „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk in der Ostukraine. Auf Wagner-Friedhöfen in der südwestrussischen Region Krasnodar und im Gebiet von Samara an der Wolga sind Statuen von Prigoschin an der Seite des mit ihm zusammen abgestürzten Kommandeurs der Miliz, Dmitrij Utkin, aufgestellt worden, die beide in militärischer Kluft zeigen.
Ans Petersburger Grab kommen weiterhin Leute, die Blumen für Prigoschin niederlegen und Kerzen für ihn anzünden. Laut dem Wachmann eines privaten Dienstes mit Sonnenbrille, der hier aufpasst, sind es noch „etwa 40“ Menschen am Tag; mehr zu sagen erlaubten ihm seine Dienstvorschriften nicht, sagt der Mann.
Angriffe auf das Grab
Weiterhin glauben viele Russen, Prigoschin sei gar nicht tot, sondern untergetaucht, etwa irgendwo in Afrika. Insbesondere auf dem Kontinent ist Wagner weiterhin wie eine Marke präsent, auch wenn Russlands Militär die Söldneraktivitäten in Ländern wie Libyen, Mali und der Zentralafrikanischen Republik nun unter der Bezeichnung „Afrikakorps“ selbst führen soll.
Auch ein Mann in schwarzer Wagner-Kluft wacht an Prigoschins Grab, er steht gleich unterhalb einer Überwachungskamera. Ende Juli soll hier ein Mann aufgegriffen worden sein, der das Grabmal mit Slogans beklebt habe. Kurz zuvor war es mit weißer Farbe überschüttet worden. Ein mit Prigoschins Leuten verbundener Telegram-Kanal zeigte jüngst Aufnahmen zweier offensichtlich verprügelter Männer mit Blut im Gesicht, die sagten, sie hätten das Grab geschändet. „Für Kohle“, sagte der eine seinen Peinigern; der andere beteuerte unter Tränen, er sei „auf eine ukrainische Provokation hereingefallen“.
Unterhalb der Statue, zwischen Plastikblumen und echten Sträußen, dankt ein Holzschild dem „Batja“, ein russisches Kosewort für Vater, Prigoschin „für Artjomowsk“. So nennen die Besatzer die in fast ein Jahr währenden Kämpfen vollkommen zerstörte ostukrainische Stadt Bachmut. Prigoschin selbst, der während der Kämpfe vor Leichnamen wütend mehr Munition von Russlands Militär gefordert hatte, sprach von 20.000 Mann, die Wagner dort verloren habe; er behauptete, es seien ebenso viele Sträflinge wie Milizionäre gefallen.
Im „Bachmuter Fleischwolf“ kam jeder Dritte ums Leben
Dagegen berichteten der russische Dienst der BBC und das Portal Mediasona unter Berufung auf Wagner-Interna, dass von den mindestens 19.547 Mann, die Wagner zur Zeit der Kämpfe um Bachmut verloren habe, 17.175 Sträflinge gewesen seien, und die übrigen 2372 gewöhnliche Milizionäre. Im „Bachmuter Fleischwolf“, wie Wagner die Kämpfe nannte, kam demnach mehr als jeder Dritte der insgesamt 48.366 Sträflinge ums Leben, welche die Miliz von Juli 2022 bis Februar 2023 angeworben habe.
Im Petersburg dieser Frühherbsttage wirkt der Krieg weit weg. Am Eingang der Peter-und-Paul-Festung im Newa-Fluss schlendert ein junger Mann in Uniform durch die Menge; in der linken Hand hält er eine Zigarette, sein rechter Arm endet unter der Schulter mit einem frischen Verband. Der Invalide bleibt eine Ausnahme. Menschen genießen die Sonne, füllen Bars und Restaurants, fahren fröhlich in Ausflugsbooten über die Newa und die anderen Wasserwege von Russlands „nördlicher Hauptstadt“.
Die Lebensgier macht offenkundig auch nicht vor dem einstigen Geschäftsimperium Prigoschins halt. Fontanka berichtete, in der Nacht auf Sonntag habe die Polizei einen „mystischen Ball“ unter dem Motto „Inferno“ im Fünfsternehotel Trezzini Palace aufgelöst, wo Prigoschin einst Hof hielt. „Begüterte Leute, alle in Schwarz und in Masken“ hätten an der Veranstaltung teilgenommen, an der eine Gruppe namens „Russische Gemeinde“ Anstoß nahm.
„Orgien im Teufelskostüm“ in Prigoschins früherem Hotel?
Ihre Aktivisten waren auch dabei, als die Polizei kam. Sie versammelten sich, gleichfalls maskiert, düster vor dem Eingang des Hotels. Während die einen „unter der Flagge des Erlösers“ kämpften, schrieb die Gruppe auf Telegram zu Aufnahmen von Sexspielzeug, pompösen Betten und düpierten Gästen unter Bezug auf den Ukrainekrieg, „veranstalten die anderen Orgien im Teufelskostüm im Zentrum der Stadt. Dieses Mal ist es ihnen nicht geglückt.“
Im Hof von Prigoschins Hotel waren während seines Aufstands Pappkartons in einem Kleinlaster mit umgerechnet 44 Millionen Euro in bar entdeckt worden; laut Prigoschin handelte es sich um Sold für Milizionäre sowie um Geld, das Hinterbliebene erhalten sollten. Nach Prigoschins Tod führte seine Familie laut Medienberichten das Trezzini Palace, im März sei es dann auf Verkaufswebsites erschienen. Laut Fontanka kommen bei den staatlichen Verpflegungsaufträgen nun oftmals andere Akteure zum Zuge.
Doch Prigoschins Schatten ist lang. Zum einstigen Mediengeflecht des Unternehmers zählte die sogenannte Trollfabrik, die unter anderem 2016 zugunsten Donald Trumps im amerikanischen Präsidentenwahlkampf mitmischte. Im Juni nahm der Inlandsgeheimdienst FSB zwei frühere Medienmanager Prigoschins in Petersburg fest, die, so der Vorwurf, versucht hätten, von einem dritten, ebenfalls mit dem Geschäftsmann verbundenen Mann Geld zu erpressen, mit der Drohung, ansonsten kompromittierendes Material über ihn oder seine Familie zu veröffentlichen.
Einer der beiden, der frühere Leiter der Trollfabrik, Ilja Gorbunow, kam vor Kurzem laut dem Telegramkanal WTschK-OGPU aus der Untersuchungshaft frei, da er sich bereit erklärt habe, den Ermittlern Zugang zum „Archiv Prigoschins“ zu gewähren. Der Geschäftsmann soll es angelegt haben, um Prominente, die er habe beschatten und abhören lassen, unter Druck setzen zu können.
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